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5. November 2017 - Noémie erzählt

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Sport
Falls du den ersten Teil noch nicht gelesen hast – klicke auf Laufen als Psychotherapie? 

Ich führe ein Doppelleben.

So fühlt es sich zumindest an.

Mein altes Leben ist noch da, während ein anderes beginnt – ein Leben mit dem Laufsport.

Trotzdem braucht es noch immer grosse Überwindung, den inneren Schweinehund zu bändigen. Oft schreit mich das Bett an, ich soll gefälligst liegen bleiben, weil sowieso alles keinen Sinn hat. Verstehen kann ich den Hund schon – im Bett ist es viel gemütlicher, als da draussen ziellos um die Häuser zu laufen und unattraktiv nach Luft zu schnappen.

Es tut weh.

Einerseits schmerzt allein der Gedanke, mich anzuziehen und nach draussen zu gehen.

Und es schmerzt physisch, weil sich mein Körper noch nicht an die Belastung gewöhnt hat.

 

Umso schöner ist es, schon nach kurzer Zeit Fortschritte zu erleben.

Meine Laufeinheiten werden länger.

Die Selbstverletzungen werden weniger.

Ich vernasche Bücher über diesen Sport.

Abonniere Läuferzeitschriften. Lese sie auch.

Auffällig oft begegnen mir Berichte über Menschen, die der Depression wortwörtlich davongerannt sind. Diese Erfolge bereiten mir eine berührende Gänsehaut.

Ich träume vor mich hin.

Von einer gesunden Noémie.

Bis die Realität wieder da ist.

 

Eine erneute Laufstunde mit meiner Psychologin steht an.

Wir laufen am Seeufer entlang.

Plötzlich legt sie einen abrupten Stopp hin und biegt auf einen Holzsteg ab.

Ich folge ihr, am Ende des Stegs bleiben wir stehen.

Die entstandene Pause begrüsse ich, um Sauerstoff in meine Lungenflügel zu pumpen. 

Jeder versinkt in seine Gedanken.

Was für ein schöner Naturfleck.

«Noémie, für solche Momente lohnt es sich doch, fit zu werden», sagt meine Psychologin. Sie strahlt mich dabei an.  

Uff, der Moment geht tief. Sofort stellt sich ein Aha-Erlebnis ein.

Das ist Lebensqualität! Es geht im Leben doch nur um die Augenblicke, die mich emotional berühren. Die Summe solcher Momente bildet am Ende des Lebens das gelassene Gefühl von Zufriedenheit.

So stelle ich mir das jedenfalls vor.

 

Ich kann mir weniger vorstellen, wie ich mich am Ende des Lebens freudig daran erinnere, wie schnell der Wäschetrockner meine Socken trocken schleuderte. Auch die stündige Dokumentation über Fertig-Lasagne interessiert mich dann vermutlich nicht.

 

Nein, es sind solche Momente wie jetzt auf dem Steg.

Tiefe Momente.

Mit treffenden Worten.

Ich bin mir unsicher, ob meine Psychologin eine Antwort auf ihre Aussage erwartet.

Trotzdem nicke ich ihr zustimmend zu.

Worte sind überflüssig.

 

Ja, es lohnt sich, fit zu werden – wiederhole ich in Gedanken.  

Ich will der Depression auch davonrennen.

Auf 42.195km.

Der Marathon-Distanz – die Königsdisziplin der Läufe.

Wir laufen wieder zurück und noch lange danach beschäftigt mich eine einzige Frage.

Kann ich tatsächlich einen Marathon laufen?

Der Gedanke fesselt mich.

Ich verbinde viel mehr als Sport mit diesem Vorhaben.

Ich will nach vorne schauen. Perspektiven haben. Ohne Anstrengung lachen können. Gesund sein.

Ich könnte ja einfach mal so tun als ob?

Schwupps ertappe ich mich dabei, wie ich mich dazu entscheide, in meinem Leben einen Marathon zu laufen.

 

Na dann, auf geht’s!

Tschüss nett eingerichtete und äusserst gemütliche Komfortzone.

Hallo mein Leben.

Um die Situation abzurunden winke ich meiner Wohnzimmerwand zu.

Ist sonst grad niemand da.

 

In den nächsten Monaten und Jahren taste ich mich langsam an die Distanz heran. 10km-Läufe und Halbmarathon wechseln sich ab, bis es dann tatsächlich soweit ist: Mit zweiundzwanzig Jahren stehe ich das erste Mal an der Startlinie für einen Marathon.

 

Durch die unglaubliche Aufregung bin ich schon sechs Minuten vor dem Startschuss müde.

Ich zweifle an mir.

So weit bin ich noch nie in meinem Leben gerannt!

Ich kann das nicht!

Klar kann ich einen Rückzieher machen, mich dezent vom Startgelände verduften. Doch ich will verdammt nochmal stärker sein als mein depressiver Schweinehund!

Ich führe einen inneren Dialog mit mir.

Laufen bedeutet für mich Lebensqualität! Ich brülle mir die Worte in Gedanken quer durch meinen Schädel.

Naja, innere Diskussion trifft es besser.

 

Noch zwei Minuten bis zum Start, meldet der Veranstalter durch das Mikrophon.

 

Bevor ich Panik schiebe, mache ich ein paar tiefe Atemzüge.

Ich versuche mich zu beruhigen.

Meine innere Stimme klingt auf einmal gefährlich wohlwollend.

Es ist ganz einfach. Ein Schritt nach dem anderen. Wiederholen. Zwischendurch atmen und durchhalten. Wie in meinem «anderen» Leben. Durchhalten kannst du, also zeig, was du gelernt hast und geniess deine Bühne!

 

Der Startschuss bereitet mir beinahe einen Tinnitus.

Ich bin hellwach.

Und beginne, mich mit der bunten Läufermasse zu bewegen.

Unterwegs geniesse ich die Zuschauer, die auf alten Pfannen Musik machen und uns anfeuern. Mich begleiten Läufer in überdimensionalen Bierkostümen und solche, die für einen guten Zweck laufen.

 

Ich klatsche Kinderhände ab, begrüsse Kühe auf der Weide und gestikuliere wildfremden Menschen zu, wie ich es im Fernsehen von der Queen Elisabeth gesehen habe. Vor jedem «Fotopoint» schneide ich eine dämliche Grimasse, weil ich einfach Lust dazu habe.




Am nächsten Getränkestand erlebe ich etwas merkwürdiges.

Ich werfe die leeren Wasserbecher in hohem Bogen um mich, während die Helfer voller Freude klatschen und toben. Ich meine, wer kann schon offensichtliches Littering betreiben und so gefeiert werden?

Keine Spur von Ärger, kein Strafzettel.

Ich muss wohl etwas ganz Besonderes sein.

Noch vor Ort reflektiere ich diese Situation.

Und lache die nächsten Kilometer über mich selbst.


Ehe ich mich versehe biege ich bereits in den Zieleinlauf ein und kann es noch gar nicht glauben. Nach vier Stunden, vierzehn Minuten und neunundfünfzig Sekunden überquere ich mit geballter Faust und einem Strahlen im Gesicht die Ziellinie.

 

Wahnsinn.

 

Im Zielgelände ziehe ich das Shirt aus und lese nochmals achtsam die weissen Buchstaben auf dem roten Hintergrund.

«Für solche Momente lohnt es sich doch, fit zu werden».

Oh ja. Und wie!

Es geht weit über die Fitness hinaus.

Der Satz wird auch in Zukunft ein Appell an mich selbst sein, falls mich der depressive Schweinehund droht zu überfordern. Denn nur die goldigen Momente ausserhalb der Komfortzone machen die Qualität in meinem Leben aus.

Auf dem Heimweg werde ich nachdenklicher.

Was hat sich durch den Lauf konkret verändert?

Nun, ich bin immer noch ich. Zuhause wartet das «andere» Leben auf mich.

Bevor ich in meine melancholische Grundstimmung kippe, lerne ich eine wichtige Lektion für mein Leben:

 

Der Prozess ist viel wichtiger als die Zielerreichung selbst.

 

Der Weg zu einem Ziel hilft mir, in Bewegung zu bleiben.

Jeden Tag meine Sitzhöcker aus dem Bett zu kriegen.

Schmerzverzerrt die letzte Wiederholung im Fitnesscenter zu absolvieren.

Die Zweifel zu überhören.

Immer wieder beginnen, an mich zu glauben.

Berührende Momente auszukosten.

Und kleine Teilziele zu feiern.

 

Mit dieser Erfahrung frage ich mich:

Geht es vielleicht eher darum, etwas zu werden, statt etwas bereits zu sein?

 

In diesem Sinne

Bleib dran  – es lohnt sich!

 

Noémie


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