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4 Dinge, die ich von meiner Krankheit gelernt habe
Ich mag die Idee, dass mich Schicksalsschläge nicht bloss runterziehen, sondern mit neuer Energie beleben. Dass sie mich inspirieren, ein Leben zu leben, für das es sich zu leben lohnt.
Das war nicht immer so.
Fest entschlossen kramte ich in meinen Unterlagen, auf der Suche nach dem Garantieschein, mein Leben zurückzugeben.
Doch der Garantieschein war abgelaufen.
Zum Glück.
Denn ich habe ins Leben zurückgefunden. Dafür musste ich nicht mal eine Brotkrumel-Spur legen.
Im heutigen Artikel teile ich kein Brot, aber meine vier Dinge mit dir, die ich von meiner Krankheit gelernt habe. Die Dinge stehen verpackt unter meinem Weihnachtsbaum.
Also sinnbildlich.
Erfahrungsgemäss habe kein solches Gewächs Zuhause. Aber hier soll es jetzt nicht um Botanik gehen.
Also – los geht’s!
1. Es geht weiter!
Vier Worte haben sich in meinem Langzeitgedächtnis eingebrannt:
Mein Leben geht weiter.
Auch wenn ich pleite bin.
Keinen Sinn spüre.
Monatelang schlaflos wie ein Zombie durch meine Welt vegetiere.
Überzeugt bin, sterben zu müssen.
Die Tabletten für den Serotoninspiegel nicht vertrage.
Tränenüberströmt in der Isolierzelle warte.
Und nicht weiss, worauf ich eigentlich warte.
Oder mit Höhenangst aus dem Flugzeug springe.
Also mit Fallschirm.
Nach der zweitausendsten Krise weiss ich, dass mich ein zweitausendunderster Neuanfang empfängt. Das macht mich gelassener.
Selbst wenn ich in einer unübersichtlichen Kreuzung von einem Gurkenlaster angerempelt werden würde, ruhen in mir zwei Gedanken:
Nummer eins: Es geht weiter.
Nummer zwei: Weshalb konnte das nicht ein Bohnenlaster sein?
2. Ich «muss» nichts in meinem Leben!
Wenn ich denke zu müssen, geht es mir dreckig. Dabei meine ich nicht den Matsch im Wald oder die Wäsche vor dem Besuch in der Waschmaschine.
Sondern: Einen Scheiss muss ich!
Genau genommen muss ich morgens nicht einmal aufstehen und zur Arbeit fahren. Denn es passiert nichts. Die Polizei kommt mich nicht holen.
Also in der Regel.
Wenn ich über eine längere Zeitspanne etwas «muss» lebe ich kaum nach meinen Werten. Und diese Vorgehensweise bringt mir genau zwei Dinge: Panikattacken und krisengeschüttelte Zeiten, die mich dermassen aus dem Ruder werfen, dass ich meine «Ich-AG» freiwillig zur Insolvenz anmelde.
Ich kann jeden Ernährungstrick umsetzen, jeden Tag Gewichte stemmen, die besten Blutwerte haben, den Müll trennen oder einen tadellosen Lebenslauf vorweisen (okay, kann ich nicht, aber nehmen wir mal an). Ich kann alles richtig machen, doch die wichtigste Säule eines gesunden Lebens sind die schönen Momente.
Die Sichtweise und Prioritäten, die ich in meinem Leben setze zählen mehr als alles andere.
Meine Krankheit lehrt mich, sensibel und achtsam zu sein, damit ich das Ruder in der Hand halten kann.
Das mit dem Ruder ist so eine Sache… Ich brauche ja bereits Reisetabletten, wenn ich ein halbes Stündchen über den windstillen Bodensee paddeln möchte.
3. Das Organigramm meiner Ich-AG laufend aktualisieren.
Ich bin mehr als meine Diagnose.
Ich bin eine korpulente Akte.
Ne, Spass.
Trotzdem gebe ich emotional manchmal eine Figur ab, die einem vollgeschissenem Strumpf ähnelt.
Das ist okay.
Es gibt eben Tage, an denen mich bereits die nächsten fünf Minuten überfordern. Manchmal ist die Sauerstoffsättigung in meinen Vorstellungen so niedrig, dass das Visualisieren unter diesen Umständen nicht mehr möglich ist.
Vielleicht sollte ich an meinem Lungenvolumen arbeiten.
Und jodeln gehen.
Vorher aktualisiere ich das Organigramm meiner «Ich-AG» laufend. Dazu überprüfe ich mein Alltag und privates Umfeld, die Selbstfürsorge, das Zuhause, meine Gedankenproduktion und Werte sorgfältig auf Stimmigkeit.
Trage ich Sorge zu meiner neu gewonnenen Selbstliebe?
Beginne ich, meinem Herzen treu zu sein?
Folge ich mir auch noch, wenn Instagram Urlaub macht?
Es ist mein Recht und die Pflicht, mich zu verändern. Wenn ich heute A sage, darf ich morgen frisch andenken, was ich sagen möchte. Oder ob Schweigen doch angebrachter ist.
Das bedeutet auch das Innehalten und bedanken bei mir selbst. Wenn ich mich dafür lobe, was ich bisher geleistet habe, höre ich auf, meine Vergangenheit zu wiederholen.
4. Im Jetzt leben!
Mit der Angst vor einem Rückfall zu leben ist nicht schön. Doch er gibt Tiefgang.
Der beste Grund dafür, im Jetzt zu leben.
Nur weil ich psychisch manchmal bissel neben der Spur bin, heisst das ja nicht, mich Zuhause einsperren zu müssen. Das Leben ist ja auch keine Prüfung, die man bestehen muss wie in der Schule.
Wäre mir zumindest neu.
Depressive Episoden helfen mir dabei, mein Leben auch wirklich zu leben. Und nicht erst, wenn die Zahlen auf dem Konto oder der Körperfettanzeige stimmen. Im Jetzt leben bedeutet auch den Mut, meine Träume überhaupt einmal ernst zu nehmen.
Ich nicke nicht mehr wohlwollend mit, wenn mir jemand sagt, dass ich dieses oder jenes nicht schaffe. Mit dieser Haltung bin ich (ohne es zu merken) mittendrin, ein Leben herbeizuführen, das ich möchte.
In meinem ganz eigenen Tempo.
Es gibt viele Wege, nach mir zu schauen. Ein Weg ist es, Noémie-Momente zu kreieren. Das sind Momente, in denen ich mein Leben kurz ablegen und durchatmen kann. Gleichzeitig entwickle ich so die Fähigkeit, dass Selbsthilfe möglich ist.
Für Gesundheit gibt es keine Garantie.
Für Krankheit aber auch nicht.
Freuen wir uns über das, was ist und machen wir uns nicht Sorgen um die Krise, die in fünf Jahren kommt.
Vielleicht kommt sie nicht.
Und falls sie doch mal kommt:
Nicht alles auf einmal wollen.
Sich Hilfe holen.
Dranbleiben.
Nur die nächsten fünf Minuten.
Die schrecklich miesen Tage werden enden, selbst wenn sie ausdauernder sind als Viktor Röthlin. Die Momente warten bereits auf uns, in denen wir uns wieder näher an der Gesundheit fühlen.
In diesem Sinne
Bleiben wir gemeinsam dran – es lohnt sich!
Noémie