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Aufrüttelnde Spitalgespräche

«Darf ich Sie etwas fragen?», sage ich.
Mit dieser Frage beginnen meist die reichhaltigen Gespräche, die mich wach und aufmerksam werden lassen.
Ich mache eine kurze Pause, bevor ich weiterspreche. Mir ist wichtig, die richtigen Worte dafür zu finden, denn ich glaube von meinem Gegenüber viel lernen zu können.

Gegenüber ist vermutlich etwas unpräzise formuliert.
Die siebzigjährige Dame liegt neben mir. Es ist Ende April und wir liegen im selben Spitalzimmer.
Nennen wir sie in diesem Artikel Frau Fischer.

Frau Fischer hat höchst wahrscheinlich auch schon mal vitaler ausgesehen.
Hier drin zählen jedoch die inneren Werte. 
Auch bei den Laborberichten.

Wir erzählen uns auf Anhieb sehr persönliche Dinge aus unseren Lebensinhalten.
Bloss für die ausgedehnten Schlafstunden und das Highlight des Tages – der Akt des Zähneputzens – legen wir eine Gesprächspause ein.

Sofort fallen mir ihre humorvollen Sequenzen auf, die mich für einen Moment vergessen lassen, weshalb wir hier sind. Ich beginne, meine Bettnachbarin für ihre Einstellung zu bewundern. Sie hätte allen Grund, das Leben und ihre jetzigen Umstände zu verfluchen.
Deshalb ist mir meine Frage so wichtig.

«Ja klar», willigt Frau Fischer ein.
Sie bewegt ihren Körper schrittweise in die rechte Seitenlage, damit wir uns sehen können.

«Was würden Sie einem jungen Hüpferl wie mir raten, das Leben anzugehen? Oder haben Sie Tipps für mich, um das Leben auszukosten?», spreche ich aus.
Frau Fischer nimmt sich Zeit, über meine Definition «junges Hüpferl» zu schmunzeln. Ihr Lachen ist so herzlich ansteckend. Danach berichtet sie direkt aus ihren Erfahrungen.

«Das tun, was seinen Fähigkeiten entspricht und das tun, was einem Freude bereitet. Nicht nach etwas Höherem streben, nur weil es der Nachbar so macht. Vor allem auf sich selbst schauen. Alles andere ist vergeudete Energie», sagt sie.

Vorsichtig lege ich meine Hand auf die Herzgegend und lasse die Worte durch mein Herz fliessen. Das mache ich oft, wenn mich etwas ausserordentlich berührt. Plötzlich werde ich in meiner Durchführung unterbrochen.
Ich erschrecke. 
Schrille Töne piepen quer durch den Raum.

Die Geräte, an die Frau Fischer angeschlossen ist, beginnen wie ein Weihnachtsbaum zu leuchten und geben unangenehm hohe Töne von sich.
«Das können die Geräte wirklich gut – auf den Wecker gehen», kommentiert sie das Gepiepe.
Sie lächelt schon wieder, als das zuständige Pflegepersonal hereinstürmt darum bemüht ist, wieder für Ruhe zu sorgen.
Frau Fischer spricht jedoch unbeeindruckt weiter. «Wenn sich die Freude am eigenen Tun mit seinen Fähigkeiten überschneidet, so ist das genau das, was das eigene Leben einzigartig macht.», sagt sie.

Ich bin platt.
Und zücke mein Handy hervor. Bevor ich Worte wieder vergesse, tippe ich sie mir in die Notizapp. 

«Und noch etwas…», fügt die Dame hinzu. «Machen Sie nie etwas, das sich für Sie nicht stimmig anfühlt. Das ist nämlich einer der Gründe, warum ich hier liege.»
Sie blickt nun nachdenklich an die Decke.

Ich bewundere meine Zimmerkollegin. Da fühle ich mich mit meinem Aua und den verrückten Symptomen schon fast wieder gesund. Still kehre ich in mich und denke nach.
Auch die Geräte sind wieder ruhig.

Die Ärzte können Frau Fischer nicht versprechen, ob sie sich jemals wieder erholen wird von ihren Leiden. Das mit dem Datenschutz in einem Spitalzimmer mit mehreren Betten ist so eine Sache. Ich kriege die ganze Arztvisite mit.
Die Ärzte hoffen, dass es wieder gut kommt.
Naja, ob hoffen so eine gute Strategie ist… ich zucke hilflos mit den Schultern. Immerhin ist mein heutiges Bewegungspensum damit erreicht. 

Frau Fischer tut mir so unsagbar Leid. Gleichzeitig schneide ich ein grosses Stück von ihr ab.
Also in Gedanken.
Ihre Einstellung zum Leben bewundere ich sehr. Selbst bei zermürbenden Diagnosen blickt sie mit positivem Blick nach vorne.

Die Gespräche mit Frau Fischer rütteln mich auf.
Mental, nicht das Fieber.
Die Worte schütteln das scheinbar Überflüssige einfach weg, wie auf einer Power-Plate-Platte. Obwohl die Umstände schmerzen, fühlt es sich erleichternd an. Das Wesentliche in meinem Leben bleibt nach dem Schüttelvorgang trotzdem übrig.

Eine andere Sache ist mir während dem Aufenthalt ebenfalls bewusst geworden:
Das Umfeld prägt.

Wenn meine Bettnachbarin keinen Pfefferminztee bei sich behalten kann, dann hilft mir das herzlich wenig, mich mit meiner eigenen Übelkeit tapfer durch das nicht enden wollende Süppchen zu kämpfen.

Da denke ich einmal mehr darüber nach, mit was ich mich umgeben möchte.
Menschen, Musik, Räumlichkeiten oder Profilen in den sozialen Netzwerken.
Ich entscheide zu einem grossen Teil, welches Umfeld mich prägen darf.
Und umgekehrt.

Die Begegnung mit Frau Fischer brauche ich nicht in ein Fotobuch zu kleben.
Ich habe sie in mir drin gespeichert.
Zur Not scrolle ich mit viel Mitgefühl durch meine Notizapp. 
Wo überschneiden sich meine Fähigkeiten mit meiner Freude?
Fühlt sich das, was ich tue, wirklich stimmig an? 

Die spannendsten Geschichten schreibt das Leben selbst.
Es liegt an mir, mich von den Fragen treiben zu lassen.
Und mein Leben zu gestalten.

In diesem Sinne
Bleiben wir auf unserem ganz eigenen Weg – es lohnt sich!

Noémie


PS: Kaum möglich, dass Frau Fischer dieser Artikel jemals lesen wird. Trotzdem wünsche ich ihr auf diesem Weg alles erdenklich Gute, aber vor allem viel Gesundheit und Liebe. Die herzlichsten Grüsse gehen raus an die Powerfrau mit Kämpfernatur, dessen Begegnung mich so sehr bereichert!
Herzlichen Dank dafür!

Und: bei mir ist wieder alles gut, ich bin wieder Zuhause und habe im Leben wieder eingestempelt.

*der Name von Frau Fischer wurde aus Datenschutzgründen zufällig gewählt