Interview
«Aus Dank an das Leben nehme ich die Treppe. Immer.»
Es gibt Momente, die berühren direkt mein Herz. Es sind die Impulse, die es mir ermöglichen, meinem Leben die entscheidende Wende zu geben.
Mit solchen Impulsen werde ich gerade beschenkt.
Reich beschenkt.
Grund dafür ist die Dame, die auf meinem Sofa sitzt und mir ihre bewegende Lebensgeschichte erzählt.
Salome.
Im Alter von 19 Jahren ist Salome in den saftigsten Jahren ihres Lebens. Die Abschlussprüfungen liegen hinter ihr, die Zukunft kann losgehen. Sie möchte ausziehen, unabhängig sein, ihr Fernweh stillen.
Auf ihrem Plan steht: Das Leben mit jeder Faser des Lebens auskosten!
Doch von einer Sekunde auf die andere ist plötzlich alles anders.
Sie wird gelähmt.
Salome gibt nicht auf.
Und kämpft sich zurück ins Leben.
Heute, vier Jahre später, führt Salome ein Leben ohne Rollstuhl.
Unglaublich?
Oh ja!
Ihre Zusage für das folgende Interview freut mich so sehr! Lass dich in den nächsten drei Leseminuten von ihrer einzigartigen Geschichte berieseln, die gleichermassen Mut machen und dich mit neuen Sichtweisen beschenken kann.
Es geht nicht nur um die enorm bewundernswerte Reise dieser starken, jungen Frau.
Ihre Geschichte ist die pure Liebeserklärung an das Leben.
Trotz allem.
So, genug getextet.
Lassen wir Salome erzählen! Viel Vergnügen beim Lesen!
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Wie kam es dazu, dass sich dein Leben als neunzehnjährige Frau so schlagartig veränderte?
Im Sommer 2014 lag ich mit einer starken Grippe im Bett. An einem Morgen wachte ich auf und konnte mich nicht mehr bewegen. Auch der Reflex, mit dem Kopf auf die Uhr zu blicken funktionierte nicht mehr.
Dazu kamen enorme Muskelschmerzen am ganzen Körper. Ich dachte, dass sich die Grippesymptome extrem verstärkt hatten.
Ich wusste, dass meine Mutter regelmässig nach mir sehen würde, weil ich noch Zuhause wohnte. Als sie hereinkam, sagte ich, mich nicht mehr bewegen zu können.
Sie hat mir geholfen, aufzusitzen. Mit extremer Zeitverzögerung sind einige Reflexe wiedergekommen, wodurch wir dann zum Arzt fahren konnten.
Vor der Arztpraxis war dann Schluss, ich war nicht mehr in der Lage, aus dem Auto auszusteigen. Mit Hilfe der Ärzte wurde ich auf eine Liege gelegt, wobei meine Beine nur so absackten.
In diesem Moment wusste ich: sie sind gelähmt.
Wie ging es dann weiter?
Ich wurde ins Spital überwiesen, weil Blutbild und Reflextest nichts ergaben. Auch im mehrwöchigen Spitalaufenthalt wurde nichts eindeutiges gefunden. Es hiess sogar an einem Ort, dass ich Stress hätte und mich bloss gelähmt stellen würde, damit ich nicht arbeiten musste. Ich war Salome, die Simulantin.
Es war völlig unklar, ob es sich bei der Lähmung und den Schmerzen um eine Muskel- oder Nervenkrankheit handelte. Nach vielen Abklärungen wurde ich dann im Rollstuhl in die Reha überwiesen.
Von einem Tag auf den anderen warst du auf den Rollstuhl angewiesen. Wie bist du mit dieser Situation zurechtgekommen?
Manchmal habe ich den Rollstuhl angesehen und gedacht: Nein, das bin nicht ich. Es gab kurze Momente, in denen ich daran dachte, das Leben im Rollstuhl beenden zu müssen. Doch die Sicht auf meine Situation änderte sich schlagartig durch eine Bekannte. Sie sagte mir: «Gott trägt dir nur so viel auf, wie du tragen magst.»
Beinahe paradox, doch aus dieser Perspektive betrachtet fühlte ich mich fast geehrt. Plötzlich erkannte ich, dass alle Situationen im Leben einen Sinn haben. Und der Glaube war mir schon immer sehr wichtig.
Wie kommt es, dass du heute wieder läufst?
In der Reha habe ich neu gelernt, die Bewegungen des Laufens auszuführen, obwohl ich extreme Schmerzen hatte und dies einige Wochen dauerte. Das Therapieprogramm war dicht und ich musste bei jeder Therapie über meine körperlichen Grenzen gehen, um nur einen winzigen Fortschritt erzielen zu können.
Der erste eigene Schritt gelang mir in einer Therapiestunde im Wasser. Die Reha selbst verliess ich dann überglücklich mit Rollator und Gehstöcken.
Danach gab es immer wieder Rückschläge. Manchmal konnte ich stundenweise oder ganze Tage nicht mehr laufen, phasenweise hatte ich gelähmte Arme und ein gelähmter Atem. Auch in den nächsten Jahren hatte ich 2-5x Physiotherapie, dazu noch 2-3x Ergotherapie – pro Woche! Zusätzlich bin ich alle zwei Wochen von Facharzt zu Facharzt in der ganzen Schweiz gereist. Auch eine kostspielige Angelegenheit, selbst wenn das Geld zweitrangig war.
Bemerkenswert ist auch mein Schlafrhythmus während den ersten zwei Jahren. Ich schlief zwischen 15 und 20 Stunden. Jeden Tag.
Nach zwei Jahren stand endlich die Diagnose fest: Guillain barre Syndrom. Auf Deutsch: Ein Virusinfekt im Rückenmark. Das erklärt die Grippe, die mich damals ins Bett legte. Der Infekt griff mein Rückenmark an und legte so meine Nervenbahnen lahm. Dazu gibt es keinen erklärbaren Grund, diese Krankheit kann jeden treffen und in jedem Alter.
Ganz am Anfang warst du von Fachpersonen als Simulantin dargestellt worden. Wie war das für dich, als du endlich eine Diagnose hattest?
Pure Erleichterung! Obwohl ich von Grund auf eine aufgestellte Person bin, habe ich an mir gezweifelt und lange Zeit gedacht, dass es vielleicht doch psychisch bedingt ist und ich Stress hatte. Durch die Abklärungen war ich auch bei Psychologen und Psychiatern. Statt einer Diagnose gratulierten sie mir für meinen guten, seelischen Zustand in dieser turbulenten Phase. Sie gaben mir die Ermutigung mit auf den Weg, so weiterzumachen.
Ich war einfach nur froh, endlich einen Namen für all das zu haben.
Wie geht es dir heute?
Die Angst wieder in eine Lähmung zu verfallen ist riesig. Es kann sein, dass der Virus bei einer Grippe neu aufflammt. Laut den Ärzten dauert es bei mir sieben Jahre, bis der Virus ausgeheilt ist. Man führt keine Statistik, deshalb ist es schwierig, einen Verlauf zu prognostizieren.
Heute sind vier Jahre vergangen seit dem einschneidenden Erlebnis. Ich führe ein Leben ohne Rollstuhl. Mit einem anspruchsvollen Job und einem lieben Mann. Ich bereise die ganze Welt, obwohl mir die Ärzte wegen der Infektionsgefahr noch immer davon abraten. Die Lebensqualität ist höher als die Angst, was eintreffen könnte, was letztendlich vielleicht gar nie eintreffen wird.
Das Leben dreht sich nicht um den kranken Teil, sondern um den gesunden. Ich lebe. Jetzt.
Und nicht, wenn ich in Rente bin.
Heute kenne ich jeden Notfalldienst in der Ostschweiz und weiss leider, dass keine Schmerzmedikamente wirken. Ich würde mich jedoch nie als krank bezeichnen. Oder als nicht gesund. Ich fühle mich gesund.
Was möchtest du der Person, die das gerade liest, mit auf den Weg geben?
Zwei Dinge.
Schätze das, was du hast. Ich schätze es sehr, laufen zu können und die schweren Einschränkungen hinter mich gelassen zu haben. Aus Dank an das Leben nehme ich die Treppe. Immer. Selbst wenn ich zwanzig Mal pro Tag in den sechsten Stock laufen darf.
Ich bin dankbar, weil das scheinbar «selbstverständliche» einfach weg sein kann.
Im Bus sagte mir mal jemand: «Stehen Sie bitte auf, Sie sind noch jung!».
Diese Aussage hat mich sehr getroffen, auch wenn man mir nichts angesehen hat. Die Wahrscheinlichkeit ist schon gross, dass eine junge Frau im Bus aufstehen kann. Doch die Schmerzen sieht man ihr nicht an, nur weil sie lächelt. Manchmal hätte ich die fragende Person gerne gefragt, wie sie sich denn verhalten würde, wenn sie im Rollstuhl war und erst wieder frisch laufen kann.
Auch heute verdrehe ich die Augen, wenn jemand im mittleren Erwachsenenalter darüber klagt, dass man in den jungen Jahren noch gesundheitlich uneingeschränkt leben kann. Als hätte Gesundheit etwas mit dem Alter zu tun.
Und als zweites: Lebe deine Träume jetzt!
Weshalb z.B. das Reisen auf die Pension verschieben? Vielleicht geht es bereits mit neunzehn Jahren nicht mehr.
Es ist dein Leben, geniesse es.
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Vielen herzlichen Dank, liebe Salome für deine Offenheit und die Eindrücke aus deinem Leben!
Von Herzen wünsche ich dir viel Gesundheit, atemberaubende Momente auf deinen zukünftigen Reisen und alles Liebe der Welt.
In diesem Sinne ist es mir heute ein doppeltes Vergnügen, dir zu schreiben, dass sich dranbleiben lohnt!
Noémie
*Der Name Salome wurde aus Datenschutzgründen verändert.