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Eine Auszeit auf der Alp. Nur ganz anders.

«Achtung! Hinter dir!», sagt meine Kollegin warnend.
Ich drehe mich um.

Der Kopf einer Kuh befindet sich gefährlich nahe an meinem eigenen Kopf. Die Distanz schätze ich auf einen halben Meter Luftlinie ein. Ohne mit der Wimper zu zucken starrt sie mich neugierig an.

Ich mag Kühe, keine Frage.
Die Idylle trügt trotzdem.

Aber schön der Reihe nach.

Ich bin mit einer Freundin auf einer Alp im Alpstein.
Auf dem Plan steht: Natur, Schlafsack, Sternenhimmel, Sonnenaufgang, Ruhe, Offline-Modus.
So stelle ich mir Erdung vor. Und die brauche ich jetzt.

Eine latente Gereiztheit stimmt mich unruhig. Die Lämpchen meines Frühwarnsystems blinken wie ein aufklappbarer Tannenbaum im Dezember.
Zu viele Dinge stehen auf meiner Todo-Liste. Balance fühlt sich etwas anders an. 
Wenn mir mein Alltag Energie raubt, brauche ich Aktivitäten, aus denen ich wieder Kraft schöpfen kann.
Höchste Zeit für so eine selbstfürsorgliche Auszeit. 

Wir sitzen also auf einem Stück Wiese am späten Nachmittag.
Doch das mit der Ruhe nimmt ein abruptes Ende.
Acht junge Männer wandern auf uns zu, sie sind modern ausgerüstet und mit grossen Rucksäcken unterwegs. In uns keimt das Gefühl auf, dass sie ebenfalls hier übernachten wollen.
Wäre total verrückt, wenn sie dasselbe vor haben. Vor allem auf dieser Alp, abseits des Touristengebietes.

Der Verdacht weicht der Überzeugung.
Sie bauen ihre Zelte auf. Selbst ihr Proviant deutet auf eine umfangreiche Party hin.  

Hm.
So war die Auszeit auf der Alp nicht geplant.
Schulterzuckend beobachten wir das Geschehen. 
Was solls.
Wir sind ja soziale Leute.

Um die Situation detaillierter zu bewerten, fehlt mir die Zeit. Denn es kommt noch dicker. 
Die Ruhe wird von etwas viel Grösserem über den Haufen gerannt. 

Kühe. 
Viele Kühe. 

Auf einmal sind sie da und zeigen sich von ihrer neugierigsten Seite (neugierig steht umgangssprachlich für aufdringlich). Sie erforschen unseren Schlafplatz mit ihrer Zunge, während sie uns umzingeln.
Das ist der Schlabber-Lifestyle in ihrer authentischsten Form. Die auffälligen Rückstände sind auf unseren Mitbringseln zu entdecken.
Bei Facebook würde das vermutlich als «anstubsen» durchgehen.
Ist bestimmt nett gemeint. 

Das Grüppchen Kühe wird immer grösser.
Am nächsten Tag klärt uns der Bauer auf, dass es achtundsechzig sympathische Exemplare sind.
Jep, die Anzahl könnte etwa stimmen.

Die Tiere scheinen es amüsant zu finden, was wir hier beim Abendessen praktizieren. Ich setze einen unbeeindruckten Blick auf und schiebe mir ein Stück Birnenweggli in den Mund.

Der Duft von Safranrisotto und gegrillten Würsten steigt von nordwestlicher Richtung in die Luft. Die Jungs zelebrieren ihre Zusammenkunft. Hin und wieder geben die Männer eigenartige Laute von sich, während sie in die Richtung der Kühe rumhampeln.
Aus der Sicht einer Kuh müssen Zelte enorm faszinierende Gegenstände sein. Auf die man sogar stehen kann. In diesem Kontext kriegt das „Anstubsen“ eine völlig neue Bedeutung. 

So viel Betrieb auf der Weide gab es vermutlich die letzten Monate nicht mehr. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass sich die Kühe köstlich amüsieren. Ist ja totale Action hier.
Für uns übrigens auch.
Ich schüttle liebevoll den Kopf und grinse laut vor mich hin. 

Die Kühe laufen in die Richtung des Stalls. 
Es wird langsam dunkel.

Ich habe Entscheidungsschwierigkeiten. Soll ich jetzt schlafen oder den Sternenhimmel betrachten? Beides gleichzeitig funktioniert nicht.
Ich schwanke zwischen «du lebst nur einmal, geniess die Sterne» und «du weisst, wie sich wenig Schlaf auf dein Wohlbefinden auswirkt».
Puh, hier oben habe ich ziemliche Luxusprobleme.

Die Entscheidung wird mir abgenommen.
Die Kühe sind zurück. 

Die Klänge der Kuhglocken haben ja durchaus ihre Berechtigung. Andere würden vermutlich viel Geld zahlen, um sie in Form einer Meditations-App auf dem Handy anzuhören. Doch wenn die Tiere direkt neben dir stehen, die Glocken wunderbar auf der Höhe deines Kopfes anzutreffen sind, dann geht das nicht mehr in die Kategorie «Entspannung».

Vielleicht ist es auch grad wunderbar so.
Ich meine, vielleicht brauche ich genau diese Situation. Also nicht das Zerstören des Trommelfells. Eher das mit dem erfolgreichen Abschalten.

Es ist unmöglich, im Halbschlaf die Augen zu öffnen, in einen überdimensionalen Kopf einer Kuh zu blicken und gleichzeitig daran zu denken, die gebührenpflichtigen Abfallsäcke einzukaufen oder was jetzt genau der Sinn in meinem Leben darstellen soll.

Vielleicht ist das genau die Art von Auszeit, die ich benötige. Eine Unterbrechung meines Alltags sind die anhänglichen Kühe allemal.
Ich muss ja nicht gleich ins Kloster. 

Jedenfalls blicke ich aus meiner Liegeposition die Kuh an. Sie steht da und bewegt sich nicht. 
Trocken starrt sie mich an. 

Ich kichere drauflos.
Die Situation finde ich so witzig, dass ich ein Foto schiesse. 

 


Meine Kollegin steht auf und fängt ein Gespräch mit den Tieren an. Sie sind so gastfreundlich, dass sie uns bereits wieder grosszügig umzingeln. 
Sie argumentiert die Wichtigkeit des Schlafes und wie schmackhafter sich die Wiese unterhalb von uns präsentiert. Eine fuchtelnde Armbewegung weist den Kühen sogar den Weg zu der angeblichen Wunderwiese.

Der soziale Beruf meiner Kollegin ist selbst heute nicht zu verbergen.
Sowas nenne ich Gesprächsführung in der Praxis.

Die Kühe bleiben wie angewurzelt stehen und blicken uns beide etwas verdutzt an. Die wohlgewählten Worte scheinen sie nicht sonderlich zu tangieren. 

Nun lache ich mich halb schlapp.
Kino war gestern. 
Ich vergnüge mich köstlich. 
Meine Kollegin findet es noch nicht so lustig, denn sie möchte schlafen. 

«Was würde ich witzig finden, wenn ich nicht betroffen wäre?», kommentiere ich aus meinem sicheren Schlafsack heraus. Die Worte von Vera Birkenbihl sind sogar auf der Alp angebracht.

Ich krümme mich vor lachen und kann beinahe nicht mehr.  
Der Versuch, die Kühe zu überzeugen, uns schlafen zu lassen, bleibt ein Versuch. Wir entscheiden uns, den Schlafplatz hinter den Zaun zu verschieben. 

Gute Entscheidung, denn wir schlafen ziemlich schnell ein. 
Ohne Schlabber.
Und wachen auf. 
Ohne Schlabber.
Dafür mit viel frischer Bergluft.



Mein Frühwarnsystem hilft mir dabei, auf den richtigen Pfad zu kommen. Leider nicht im geografischen Sinn. Denn auf dem Nachhauseweg verlaufen wir uns.
Oder wir machen Umwege und erhöhen dabei unsere Ortskenntnisse.

Wir nehmen es mit viel Humor.
Denn Lachen ist Teil der Erholung.

Am Ende des Lebens sind es doch genau diese Momente, die vor meinem inneren Auge aufleuchten.
Zeitlose Momente mit lieben Menschen. 
Witzige Gegebenheiten.
Aber vor allem so herrlich ungeplant. 

Würze deinen Alltag mit diesen Augenblicken. 
Kreiere deine eigene Definition von Auszeit.
Und schenke dir Leben.

Wie wäre es, einfach mal loszugehen?

In diesem Sinne
Bleib dran – es lohnt sich!

Noémie