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Ende der Therapie. Und jetzt?

«Klack», höre ich.
Hinter mir schliesst sich die Türe der psychologischen Praxis.
Das war sie also. Die letzte Sitzung bei meiner Psychologin.

Ich bleibe stehen und gebe mir die Zeit, vor der Türe innezuhalten. Ich fühle mich so, als hätte ich soeben den Hauptpreis gewonnen und könnte es trotzdem nicht begreifen. Meine Lippen bilden ein vorsichtiges Lächeln.

Trotz des schicksalsträchtigen Tages scheint gegen aussen alles ganz normal zu sein. Ich trete den Nachhauseweg an und besteige die öffentlichen Verkehrsmittel. Menschen steigen ein und aus, manche sind in Eile, manche hören Musik und andere unterhalten sich.

Wie immer eben.
Nur ganz anders.
Denn das Leben nach der Therapie beginnt jetzt! Ein aufregendes und mulmiges Gefühl zugleich.
Die ersten Wochen fühlen sich noch etwas fremd an. Die Gespräche sind mir so vertraut geworden an diesem Ort, an dem ich mich intensiv mit meinem Leben auseinandergesetzt (und wieder zusammengefügt) habe.
Dieser Ort plötzlich nicht mehr zu «haben» macht das Mulmige aus.
Dieser Ort nicht mehr zu «brauchen» ist das Aufregende an der Sache.

Ich mag die Vorstellung, mich selbst zu begleiten und ich freue mich darauf. Ich spüre, es ist Zeit, mich selbst zu coachen.
Das Gelernte in der Praxis umzusetzen. Den Prozess des Gesundbleibens ernst zu nehmen. Und die Qualität in meinem Leben zu geniessen.
Diese Vorstellung berührt mich so, dass ich mich plötzlich unglaublich erwachsen und reif fühle. Dankbarkeit ist eine tolle Erfindung!

Die schlechten Tage werden kommen, darauf habe ich mich vorbereitet – mit einem sogenannten Frühwarnsystem. Eine Art interne Alarmanlage, die mir hilft, wenn ich zu sehr von meinem Weg abkomme. Im ersten Schritt geht es darum, mich selbst zu beobachten.
Das moderne Wort dafür heisst Achtsamkeit.

Sobald sich etwas nicht stimmig anfühlt, hornt die hauseigene Sirene los. Ich unterscheide zwischen körperlichen, psychischen und situationsbezogenen Situationen.

Die Liste hat kein Mindesthaltbarkeitsdatum. Sie ist bereits sieben Jahre alt und wird noch immer fortlaufend ergänzt.

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Körperliche Symptome

– Ich fühle mich rastlos und unruhig
– Ich fühle mich körperlich angespannt (vor allem Kiefer, Nackenmuskulatur, Rücken)
– Ich bin müde Ich habe Ein- oder Durchschlafstörungen
– Ich habe Magen-Darmbeschwerden
– Ich habe wenig Appetit
– Ich habe Herzrhythmusstörungen
– Mir ist schwindelig
– Tiefes Atmen fällt mir schwer

Psychische Symptome

– Ich beziehe vieles auf mich persönlich
– Ich habe das Gefühl, mein Körper verändert sich, bzw. etwas ist komisch an ihm
– Ich habe das Gefühl von Mutlosigkeit und Trauer
– Ich fühle mich verzweifelt
– Ich fühle mich depressiv
– Ich fühle mich dünnhäutig
– Meine Gedanken kreisen um Sorgen
– Ich habe Schwierigkeiten, lästige Gedanken zu vertreiben
– Ich wiederhole ständig negative Gedanken
– Ich habe das Gefühl, der Zeit hinterher zu rennen

Situations- und verhaltensbezogene Symptome

– Ich bin weniger sensibel für andere
– Ich mag anderen Personen nicht zuhören
– Ich wende mich im Gespräch mit meinem Rücken etwas ab und halte wenig Blickkontakt
– Ich mag andere nicht ernsthaft fragen, wie es ihnen geht
– Ich ernähre mich eher von zuckerhaltigen Speisen und Getränken
– Ich kann mich nur schwer auf Augenblicke einlassen

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Nach dem achtsamen, ersten Schritt folgt der zweite. Sobald ich vermehrt Dinge aus der Liste an mir beobachte, darf ich darauf reagieren, bevor sie sich zu einer Krise häufen. Je nach Situation reduziere ich meine Stressfaktoren, wenn ich sie erkenne.

Häufig baue ich Noémie-Pufferzeiten ein, verschwinde in die Berge oder treffe mich mit einer meiner engen Freunde zum Tee.
Ich erinnere mich gerne daran, dass es ein Leben nach der Therapie gibt. So wie es ein Leben vor der Therapie gegeben hat.

Manchmal macht es einfach Spass, die Noémie zu sein – und manchmal ist es anstrengend. Aber ist nicht vieles im Leben anstrengend, bevor es leicht wird?
Es ist wie im normalen Leben. Denn auch das modernste Auto rumpelt ein wenig, wenn es in den nächsten Gang schaltet. Ich mag die Vorstellung, ebenfalls das nächste Level anzusteuern. Dafür brauche ich nicht den teuersten Schlitten, um schnellstmöglich an einem bestimmten Ort anzukommen.

Das Leben ist kein Wettrennen. Denn da war doch noch was.
Genau.
Der Gewinn des Hauptpreises. Der Preis, das eigene Leben zu leben. Ich erinnere mich gerne an meine Zukunft. Erfahrungsgemäss warten dort die guten Tage auf mich.

Das Leben will vorwärts gelebt werden. Rückwärts schauen lohnt sich nur, um die eigene Reise anzuerkennen.

In diesem Sinne
Viel Spass mit deinem persönlichen Hauptgewinn!

Noémie