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Höchste Zeit, du selbst zu sein!

«Gehst du bitte noch ein bisschen weiter nach links?», ruft mir meine Mutter zu.
Sie blickt hinter ihrem Smartphone hervor, während sie eine wedelnde Handbewegung macht.
Sie ist gerade dabei, ein Foto zu schiessen.

Ich blicke nach links. Der Weg führt hinter einen Hügel, also verschwinde ich von ihrer Bildfläche.
Wortwörtlich.

Durchaus eine charmante Botschaft.
Ich grinse und schüttle liebevoll den Kopf, während ich mich in die gewünschte Richtung begebe.

Typisch Mutti.
Ich wette, heute Abend hat sie ein neues Profilfoto auf Whatsapp.
Ein tochterfreies von den Schweizer Voralpen.

Einerseits finde ich es enorm witzig und doch wandere ich denkend durch den Alpstein.
Sie ist so herrlich authentisch.

Das meine ich als Kompliment. Doch ich habe dieses «authentische» auch schon mal als höfliches Schimpfwort ausprobiert – als ich froh war, nicht wie mein Gegenüber zu sein. Ein «ich finde dich sehr authentisch» spricht sich leichter aus als die unüberwindbare Abneigung zu jemanden auszusprechen.
Die klassische Antipathie-Situation.
So gesehen war ich ja eigentlich nur nett.

Ich denke weiter.
Das Authentische fesselt mich.

Die Foto-Situation ist ein tolles Beispiel für den Authentismus.
Wirkt so authentisierend.
Gibt’s das überhaupt?

Ich glaube, mein Wortschatz spielt Tetris.
Wer braucht schon Allgemeinbildung, wenn ich innerhalb einer Minute wikipedien kann. Da will noch einer sagen, dass früher alles besser war.
Okay, gestern vielleicht.
Da gab es einen köstlichen Wrap zum Abendessen.

Ich schweife ab.

Also.
Die Internetverbindung ist aktiv, Wikipedia auch.
Authentizität («echt», «verbürgt, zuverlässig») bedeutet Echtheit im Sinne von «als Original befunden». Das Adjektiv zu Authentizität heisst authentisch.

Als Original befunden.
Soso.
Meine Mutti definitiv. Doch ich überlege, wie es mir gelingt, selbst ein Original zu sein.

Wo kann ich lernen, wie ich bin?

Vielleicht beginnt es damit, immer wieder für meine Bedürfnisse einzustehen. Selbst wenn sie noch so klein scheinen.
Von der Heilpraktikerin nochmals erklären lassen, wie die Globuli-Ration wirkt.
Die zugestossene Person in der Warteschlange freundlich darauf hinweisen, dass andere vorher da waren.
Sich für eine Romanze, statt ein Horrorfilm im Kino entscheiden.
Den Kellner fragen, ob die hausgemachte Gnocchi auch ohne Rahmsauce serviert werden kann.

Ich möchte die Dinge, die ich tue, auch gerne tun. Dazu ist es hilfreich, meine Wünsche und Vorstellungen, aber auch meine Werte im Leben zu kennen.

In dieser Hinsicht kann es manchmal sinnvoll sein, nicht den Arzt oder Apotheker zu fragen. Sondern seinem Herzen zu lauschen.
Nicht die leisen Töne eines erschöpften Organs. Sondern dass mein Herz überhaupt meinen Takt schlagen darf. Und dass Fühlen und Handeln im Einklang sind.
Oder immer öfters zueinander passen.

Ich muss nicht ständig meine Träume leben.

Ich brauche keine Radiomoderatoren, die von mir verlangen, den Tag zu geniessen. Oder Mathe-Lehrer, die mir sagen, eine bestimmte Formel in meinem weiteren Leben unbedingt zu brauchen.

Aber klar, im Nachhinein muss ich meinem Lehrer recht geben. Wenn ich mit Fieber vor mich hin glühe, in ein Fettnäpfchen trete, ohne Portemonnaie an der Kasse stehe oder mit einer ausdauernden Schreibblockade vor dem Laptop sitze, dann hilft mir der Satz von Pythagoras ungemein weiter.

Naaja.
Lass ich mal so stehen.

Ich brauche kein Selfie vor der chinesischen Mauer oder eine Partynudel zu werden. In der Mittagspause muss ich nicht ins Achtsamkeitstraining eilen oder im Horoskop nachlesen, wie denn meine Zukunft wird. Selbst eine 10’000 Kalorien-Challenge wertet meinen Lebenslauf nicht auf.
Das nimmt mir enorm Druck.

Wenn ich im ununterbrochenen Vorwärtsmarsch Lust habe, einfach mal anzuhalten, dann mache ich das. Ich darf auf der Couch sitzen und mit meinem Drachenbäumchen ein Konkubinat führen.
Und ja, das ist eine vollwertige Freizeitbeschäftigung.

Ich bin authentisch genug, mich nicht von einem Waschmittel-Sparangebot ködern zu lassen, um mit mir im Reinen zu sein. Ich habe die Möglichkeit, Dinge von der To-Do-Liste zu streichen, obwohl sie noch nicht erledigt sind.

Es ist okay.
Ich bin okay.
Weil ich bereits genüge.

Irgendwelchen Ansprüchen hinterherzuhecheln bringt nichts. Nicht mal für das Herz-Kreislaufsystem.
Wir müssen ja nicht gleich Briefmarken sammeln.

Lange Zeit in meinem Leben war mein Hobby das Durchhalten. Zähne zusammenbeissen und durch den Tag kommen. Doch das Leben ist nicht dazu gemacht.
Es geht nicht nur darum, vor sich hin zu vegetieren, sondern zu leben. Selbst mit einer etwas wackeligen psychischen Verfassung.

Auf Dauer nicht ich selbst zu sein, kann richtig ungesund werden. Ich bin sogar überzeugt davon, dass es einen wichtigen Zusammenhang mit meinen depressiven Verstimmungen gibt.

Auf welche Zeit warte ich denn?

Ich blicke nicht mehr auf die Armbanduhr, die mir sagt, wann es Zeit ist, das Leben nach meinem Wesen zu leben. Ich bin alt genug, glücklich zu sein.
Und jung genug, das zu erkennen. Auf welches Alter warte ich denn, mir zu erlauben, ich selbst zu sein?

Heute: Es ist dein Leben.

Und doch teile ich mir meine Energie ein.
Ich pflege eine Lebensglut, die anhält. Und zünde kein Feuerwerk. Ausgenommen der Moment, wenn sich jemand Neues in den Newsletter eingetragen hat.
Und ich ihn nicht dafür bezahle.

Zurück zur Wanderung.
Meine Gedanken wandern gefühlt auf dem Mount Everest.

Wir bleiben stehen.
Mutti packt erneut ihr Smartphone aus und fragt Google nach dem Weg.
Ich staune nicht schlecht. Wir sind also in der modernen, digitalen Zeit angekommen. Die Tatsache, dass wir direkt vor einem Wegweiser stehen, nährt diesen Verdacht enorm.
Fehlt eigentlich nur noch die Tüte Popcorn.
Oder ein zweites Handy, das Spektakel festzuhalten.

Meine Mutter als authentisches Vorbild. 

Ich schmunzle in mich hinein. 
Doch der Moment hat Tiefgang. 
Es ist höchste Zeit, ich selbst zu sein. Sage ich mir.
Und meine es auch so. 

Meine und deine Zukunft beginnt jetzt. 

In diesem Sinne
Bleiben wir dran – es lohnt sich, ein Original zu sein.

Noémie

Übrigens: Rate mal, wer das Profilfoto auf Whatsapp gewechselt hat..