Sport
Laufen ist ein bisschen wie betreutes Wohnen
Hügel können sehr sympathisch sein, vor allem die Exemplare im Appenzellerland.
Aber morgens um acht in der Luxuskombi mit meinem Vorhaben, bin ich mir da nicht mehr ganz so sicher.
In Laufklamotten stemme ich meine Hände in die Hüfte und betrachte den steilen Hang vor mir. Die Frage drängt sich auf, was ich hier eigentlich mache.
Ganz schwach mag ich mich daran erinnern, mich freiwillig für das heutige Training entschieden zu haben. Denn in sieben Wochen findet mein erster Berglauf statt.
Konkret heisst das: das vorwiegend benötigte Muskelgrüppchen – die untere Wadenmuskulatur – darf ausgebaut werden. Bei mir muss jedoch erstmal so ein Fundament hin, bevor irgendwas ausgebaut und renoviert werden kann.
Deshalb geht’s jetzt los. Zwölf Mal werde ich denselben Hügel hinauflaufen. Die zweifelnden Gedanken nehme ich einfach mit.
Modernes Gassigehen mit dem inneren Schweinehund.
Obwohl noch immer absolutes Feuerverbot herrscht, brennen meinen Beine bereits bei der ersten Steigung. Innerlich verfluche ich gerade alles und jeden. Es kommen mir so viele Dinge in den Sinn, die ich jetzt auch tun könnte.
Meine Buntstifte nach Farben sortieren, die Socken glätten, meine Terrasse nach Dinosaurierspuren absuchen. Diplomatisch ausgedrückt: Ich fühle mich nicht wie die strahlenden Läuferinnen auf den Zeitschriften-Covers, die mit einem locker-lässigen Laufstil über den Boden schweben.
Mental und körperlich bin ich nicht mehr in der Komfortecke anzutreffen – na also, geht doch! Es scheint zu funktionieren!
Wenn ich besser werden will, muss ich bereit sein, mehr zu machen als gewohnt. Wenn ich bereit bin, Unangenehmes zu erfahren, nehmen mir solche Trainings die Barrieren in meinem Alltag.
Laufen ist mehr als Schritt für Schritt
Bisher habe ich keine Minute Sport bereut, denn Laufen ist mehr für mich als einen Fuss vor den nächsten zu setzen. Laufen ist mein natürliches Antidepressivum. Meine wertvollste Erfahrung in Bezug auf das eigene Körpergefühl und die Ausschüttung der Endorphine.
Kein Littering, sondern die sanfte Produktion der Glückshormone.
Im Schichtbetrieb.
Jemand hat mich mal gefragt, was ich denn unterwegs so mache, wenn ich lange Distanzen laufe. Tja, wenn es mir zu langweilig ist, dann nehme ich meine Stricksachen mit und produziere unterwegs ein Paar rosa Socken.
Scherz.
Sie sind blau.
Laufen ist Eintauchen in eine völlig neue Welt und ein erfolgreiches Abschalten von den Dingen in meinem Kopf.
Ich laufe nicht, um Action zu haben, sondern um runterzukommen. Action gibt es in meinem Leben genug.
Diese Aktivität ausserhalb der Arbeitszeit soll nicht zu Stress führen, sondern ein wichtiges Ventil für dessen Abbau darstellen. Wenn ich so darüber nachdenke, ist Laufen ein bisschen wie betreutes Wohnen.
Unterwegs beobachte ich mein Erleben viel sensibler als wenn ich im Museum stehe und mich frage, inwiefern das jetzt Kunst sein soll.
Zwickt es irgendwo beim Laufen? Dann verändere ich die Bewegungen, bis sich die betreffende Stelle wieder geschmeidig anfühlt (ob es auch so aussieht ist eine andere Sache).
Machen sich meine Darmzotten bemerkbar? Vielleicht lasse ich den leckeren Burrito direkt vor Laufbeginn das nächste Mal doch lieber weg.
Überholen mich Omis mit Gehstöcken? Bei Gelegenheit sollte ich meine Geschwindigkeit überprüfen. Obwohl.. schliesslich bin ich ja wegen der Natur hier.
Ein weiterer Hinweis, feinfühlig mit mir umzugehen, ist das Laufen ohne GPS-Sportuhr am Handgelenk (nicht nur, weil ich die Batterien seit einem Jahr wechseln sollte). Nach einem Training nicht die genaue Kilometeranzahl oder Zonenbereiche auswerten zu können, kommt pädagogisch schon sehr nett daher. Doch in der heutigen Zeit geht das beinahe als „Leben am Limit“ durch.
Vor allem im urbanen Raum.
Nach oder besser gesagt mit Körpergefühl zu laufen, ist für die Beziehung zu mir selbst enorm wichtig. Als Nebenwirkung schenke ich mir so den Respekt, mich nicht auf ein elektronisches Wunderding am Handgelenk zu konzentrieren.
Sondern auf mich selbst. Da ist es also wieder, das betreute Wohnen.
Wenn ich nicht gerade blaue Socken stricke.
Ich meine, die Weihnachtsfeste kommen auch immer schneller als geplant.
Bevor ich sage, dass ich abschweife, möchte ich dir weiterführende Artikel zum Thema Laufen anbieten. Wenn du nicht magst, einfach unbeeindruckt weiterscrollen.
Hier die verrückte Story, wie ich zum Laufen gekommen bin: Laufen als Psychotherapie?
Wie ich meinen ersten Marathon erlebt habe: Der Moment als wichtige Lebenslektion
Was passiert, wenn das Funkeln in den Augen ernst genommen wird: Das Leben „ultra“ machen
Oder wie es überhaupt zum jetzigen Abenteuer „Berglauf“ gekommen ist: Gesunde Selbstverletzung für das nächste Level?
Ich schweife ab.
Wie angekündigt.
Mein heutiges Training neigt sich dem Ende zu. Die zwölf Mal sind tatsächlich geschafft!
Die Beine brennen schon lange nicht mehr. Oder dauernd, so genau kann ich es nicht sagen.
Jedenfalls verfluche ich nicht mehr alles und jeden – das Gefühl, es geschafft zu haben, ist grandios!
Es muss nicht zwingend Sport sein.
Wie wäre es mit der Steuererklärung? Den Liebesbrief an deinen Liebsten? Oder einfach mal ne kalte Dusche für dreiundzwanzig Sekunden?
Wenn es ein schlechter Tag wird, gibt’s halt ein gutes Down gerade. Das Gefühl, den inneren Schweinehund an die Leine zu nehmen und es trotzdem zu machen, ist überwältigend!
In diesem Sinne
Bleiben wir gemeinsam dran – es lohnt sich!
Noémie