Allgemein
Lebe in die Antwort hinein!
Wie fordernd das Leben sein kann, ignoriere ich erstmal.
Ich starte das Internet und klicke mich durch die Nummernschilder-Flut, die beim Strassenverkehrsamt angeboten wird. Eher mechanisch und ohne Ziel scrolle ich durch die Zahlenkombinationen.
Ja, Noémie, so kann man den Tag auch rumkriegen.
Durch die Kontrollschilder halte ich an meiner Komfortzone fest und stelle mich doof. Ich vermute, dieser Akt ist ein Ansturm von leichter Verzweiflung, da meine Synapsen Achterbahn fahren. Eigentlich wollte ich einen Plan entwerfen, ausgeglichener durch all die extremen Stimmungslagen zu pendeln.
Es folgt ein Beispiel der letzten Woche.
Ich bin auf einer Geburtstagsparty und wir haben viel Gaudi (umgangssprachlich für: grosszügig Spass verspüren). Wir lachen und aktivieren fleissig unsere Lachmuskeln. Kurz vor der Verabschiedung fragt mich ein Unbekannter, ob ich denn eine Ausbildung in Humor gemacht habe.
Also ernsthaft.
Die Frage berührt mich tief, weil ich erkenne, dass sie ernst gemeint ist. Die wunderbaren Perlen des Alltags! Anscheinend sieht man mir all die anderen Anteile nicht an, die in mir um Aufmerksamkeit ringen.
Denn auch das bin ich: Ich schiebe meine Zukunftspläne und den Stapler, manchmal aber auch die Kiste mit ausgedienten Überzeugungen über den Flur. Gleichzeitig übe ich mich darin, aktiv zuzuhören (meine Herrn, ziemlich anspruchsvoll sowas!) und erlebe in regelmässigen Abständen, wie uncool mein limbisches System auf Butterbretzel und Kinderschokolade reagiert.
Momente später torkle ich in meiner Welt umher, die unerreichbar wie Sand durch meine Finger gleitet. Innerlich dermassen verletzlich, dass jeder Blick, jedes Wort und jeder Duft mich völlig zerlegt. Die Überflutung von Reizen nimmt ein ungesundes Ausmass an, als stosse ich mit riesigen Schritten in die Tiefe meiner Seele hinab.
Ein emotionales Wegschmeissen. Oder doch das Einrichten eines neuen Raumes?
Ich schreibe mein Notizbuch wund.
Das Leben draussen geht weiter.
Leute kaufen Mandelmilch, checken Mails auf ihren Smartphones, hetzen durch die Einkaufsregale und auf den Bus. Ich dagegen bin still und in mich gekehrt, rede mir ein, auch alleine ganz schön teamfähig zu sein. In diesem Zustand mache ich womöglich den Eindruck, ähm, ausgeglichen zu sein.
Imaginäre Wölkchen in meinem Kopf vorbeiziehen zu lassen ist nicht so mein Ding. Dabei bemühe ich mich ja, mir ein friedliches «du bist grossartig» in den Spiegel zu schubsen. Die Worte sind eher ein verschupfter Versuch, eine vitalisierende Affirmation hinzukriegen. Naja, das Gesetz der Anziehung soll es irgendwie richten.
Ich kaufe es mir nämlich nicht ab.
Aber immerhin bezahle ich in Raten.
In manchen Momenten macht es auch Spass, die Noémie zu sein.
Nicht nur auf Geburtstags-Ekstasen oder beim sorgfältigen Umsetzen des Haushalt-Motto «Mein Immunsystem ist unterfordert, wenns zu sauber ist».
Sondern auf einer anderen Ebene.
Abends bei acht Grad stehe ich an der Bushaltestelle, wippe sanft im Regen vom rechten auf den linken Fuss und spüre, wie das Leben auch sein kann. Keine körperlichen Beschwerden, keine Eile, kein Gedankenkreisen, keine abrupten Stimmungsumbrüche. Heilende Worte von Freunden und Therapeuten machen sich in mir breit. Eine Sanftheit zwinkert mir zu, nicht alle meine Probleme mit Härte lösen zu wollen.
Ich geniesse den Mangel an sozialer Interaktion.
Und mich selbst.
Ein Bushaltestelle-Moment aus der Rubrik: «Mein Leben berührt mich».
Fakt ist: Das ist das verrückteste Leben, das ich je hatte.
Und dann kommt der ganze Alltagskram dazwischen, der auch immer so unangemeldet in mein Leben platzt. Das Leben bleibt ein schmaler Grat und in mir bauen sich grosse Fragen auf. Ich suche Trost in Podcasts, Coladosen und gutmütige Kontrollschilder.
Wenn das nicht reicht, werfe ich meinen Mitmenschen die riesigen Fragen direkt vor die Füsse in der Hoffnung, zurück in meine Mitte zu finden. Die Vollmacht über meine Gesundheit zurückzuerobern.
Sowas wie:
Was ist der Sinn und Zweck von Grenzen?
Woran erkenne ich, dass das Alte aufhört und das Neue beginnt?
Inwiefern hat Recovery mit Heilung zu tun?
Wie spüre ich, mir selbst auf Augenhöhe zu begegnen?
Als ich (mal wieder) übergrosse Fragen anstarre, erreicht mich eine wunderbare Mail mit goldigen Worten. Mit dem Zitat von Rainer Maria Rilke kommt eine lang ersehnte Langsamkeit zurück:
«Habe Geduld gegen alles Ungelöste in deinem Herzen und versuche, die Fragen selbst lieb zu haben, wie verschlossene Stuben oder ein neues Buch, das in fremder Sprache geschrieben ist. Forsche nicht nach Antworten, die dir nicht gegeben sind, weil du sie nicht leben kannst. Und darum handelt es sich doch: alles zu leben. Lebe jetzt die Fragen! Vielleicht lebst du dann eines neuen Tages, ohne es zu merken, in die Antwort hinein.»
Was manche Worte bedeuten, können Sätze nicht beschreiben.
Ich krabble zu meinem Ego und lies ihm das Zitat immer wieder vor.
Ich brauche keinen Plan, wie ich ausgeglichen durch meine inneren und äusseren Welten pendeln kann. Alle Anteile und Gefühlslagen, in denen ich unterwegs bin, sind miteinander verbunden. „Alles leben“ – inklusive Bushaltestellen-Feeling, gutmütige Kontrollschilder und Motto für den Haushalt.
Bis ich eines Tages, ohne es zu merken, in die Antwort hineinlebe.
In diesem Sinne
Bleiben wir gemeinsam dran – es lohnt sich!
Noémie