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Lieber Santa, darf ich Klaus zu dir sagen?

Holla.
Die Jahreszeit mit den aufklappbaren, blinkenden Tannenbäumen ist da.

Du willst moderne Winterdeko zum Selberbasteln? Pfiffige Rezepte für trendige Acai-Bowls? Achtsamkeits-Tutorials bei Orangen-Ingwer-Kerzenduft?

Na dann weiss ich auch nicht.

Bin jetzt nicht so der Advents-Hirsch.
Oder das Rentir.
Weil der Nikolaustag in meiner Agenda bereits vorgedruckt steht, nehme ich zwangsläufig teil. Ein guter Grund, der längst überfällige Wunschzettel zu verfassen.

Die Dinge einfach mal so richtig sagen.
Tacheles reden.
Ungeweichspülert Worte purzeln lassen.
Ohne Umschweife auf den Kern der Sache zielen.
Und bestenfalls treffen.

Naja, jedenfalls tippe ich meine Gedanken auf gut Deutsch in die Tastatur und forme dem Nikolaus zeitgemäss eine E-Mail.

***

Lieber Santa, ich bin die Noémie.
Jetzt, wo wir uns ein bisschen besser kennen, schlage ich vor, dass wir uns duzen.
Wunderbar, hätten wir das geklärt, Klaus.

Ich möchte dir ein paar Dinge anvertrauen, die mich bewegen und manchmal auch überfordern. Fangen wir mal bei Thema Nummer eins an.

Als wäre es selbstverständlich, gesund zu sein!

Ich wünsche mir, dass die Leute nicht mehr der festen Überzeugung sind, als junger Mensch nicht auf die Gesundheit achten zu müssen. «Die Probleme kommen erst mit dem Alter», «die Jungen haben es noch gut», «geniesse dein Leben zwischen zwanzig und dreissig», «ach, du bist noch jung», wie mir gesagt wird.

Manche Leute kommen besserwisserisch daher und komprimieren mich in eine Früher-war-alles-besser-Schublade. Das sind die extrem tollen Gespräche, die bloss im Monolog geführt werden.
Ich werde meiner Gesundheit trotzdem Sorge tragen, auch wenn ich noch ein junges Hüpferl bin, dessen Herausforderung anscheinend darin besteht, zielbewusst in die Windeln zu pupsen.

Ich kann amaranthgepuffte Kartoffelburger mit Kokoshaube essen, das soziale Event absagen, weil es nicht zu meinem Haarwaschtag passt oder stundenlang über das bevorstehende Mops-Rennen twittern und werde dabei nicht einmal schief angeglotzt.
Im Gegenzug passiert dann sowas: Aus Dank an das Leben nehme ich die Treppe. Immer.

Etwas zu hinterfragen ist kein Thema.
Für Empathie bleibt keine Zeit. Aber mal ehrlich: Was hat das Alter bitteschön mit der Gesundheit zu tun? Ich rede nicht von Luxus, wenn ich sage, dass Gesundheit Reichtum ist – unabhängig von der Anzahl Kerzen auf der Geburtstagstorte!

Psychisch krank heisst ja nicht blöd!

Die emotionale Instabilität auch mal bewundern, statt als verrückt behandeln zu wollen. Ich mag es nicht besonders, wenn jemand warnend mit dem Finger auf mich zeigen muss, weil ich anscheinend aus der Balance geraten bin.
Übrigens bin ich Sternzeichen Waage. Nur wegen Gleichgewicht und so.

Apropos Beruf.
War zwar grad nicht Thema, mir fällt aber keine bessere Überleitung ein.

Ich finde es wichtig, bei der Arbeit auch mal sagen zu dürfen, dass wir uns krank fühlen als weitere Checklisten zu erstellen, wie man schwierige Gespräche führt.
Ich wünsche mir mehr Firmen in der freien Wirtschaft, die Menschen mit einer Beeinträchtigung ein Arbeitsplätzchen anbieten. So eine Möglichkeit kann für einen Betroffenen riesige Perspektiven öffnen – selbst wenn es sich nur um ein begrenztes Arbeitsverhältnis handelt.
Arbeit ist Teilhabe, egal in welcher Zeitspanne.

Gleichzeitig wünsche ich mir, nicht noch mehr Druck auf die Persönlichkeiten auszuüben, denen es nicht gelingt, mit ihrer Erfolgsgeschichte sinnbildlich als Bestseller im Bücherregal zu glänzen. Nur weil etwas nicht sofort klappt, heisst es nicht, dass wir nicht gut genug sind!

Nächstes Thema.

Wer denkt an die Angehörigen?

Eine psychische Erkrankung nimmt Selbstbewusstsein. Vor allem Angehörige machen Betroffenen oftmals Mut, wenn sie an sich zweifeln oder sich in einer Sackgasse fühlen. Doch wer schenkt ihnen eigentlich Mut und begleitet sie durch diesen Prozess?
Angehörige müssen eine solch emotionale Beweglichkeit besitzen, wie man sie in keiner Yogastunde lernt.

Weisst du, Klaus, ich schluchze ins Telefon, wie schrecklich mein Leben ist. Packe meine Koffer, wenn ich Urlaub von mir selbst brauche. Oder lasse in der Bratpfanne des Glücks ein paar Spiegeleier anbrennen. «Die Diagnose ist okay, wir machen jetzt weiter» – diesen Satz von meinen Liebsten zu fühlen, selbst wenn das eigene Kind mit zwanzig Jahren noch keine Ausbildung hat, muss bedingungslose Liebe sein.

Meine Liebsten haben meine Erfolge gefeiert, als wären es ihre. Ich wünsche mir, dass sich die Angehörigen nicht selbst vergessen. Das sind meiner Meinung nach die wahren Alltagshelden, die nicht wirklich auf der Bühne des Lebens einen fetten Applaus abräumen. Sondern eher hinter dem Scheinwerfer stehen, um auf unserem Weg für die optimalen Lichtverhältnisse zu sorgen, als wäre es selbstverständlich.

Schenke den Angehörigen auf deiner Tour doch mal einen Orden. Oder ein Goldvreneli.
Oder zumindest eine Büchse grüne Bohnen.

Ja, wie wäre es, dieses Jahr allgemein mal nicht mit dem langweiligen Knabberzeug in abgepackten Säckchen unterwegs zu sein? Ich will deiner Tradition ja nicht reinreden, aber ich wäre bestimmt ne tolle Santa-Frau.

Hui.
Grenzwertig.

Ok. Werden wir wieder etwas seriöser.

Was wir brauchen sind unsichtbare Skripte. Oder doch saugstarke Windeln?

Ich finde, das Leben macht es leicht, dass unsere Sinne taub werden. Beinahe ständig wird uns das Motto «höher, weiter, schneller» um die Ohren geworfen wie Diskus-Scheiben. Kein Wunder verherrlichen wir die Uhr und vernachlässigen den inneren Kompass.

Ich denke, was wir brauchen sind neue, unsichtbare Skripte in unseren Köpfen eine sensibilisierte Sichtweise auf das, was wir erleben. Wo haben unsere Lebensentwürfe in der Gesellschaft denn noch Platz?

Es ist lebenswichtig, auch mal eine Pause einzulegen und innezuhalten. Nein, nicht weil man es «verdient» hat oder kurz vor dem Zusammenbruch steht, sondern weil es zum Menschsein dazugehört. Ich wünsche allen, sich diese Pause zu erlauben und nur so beschäftigt zu sein, damit wir die Schönheit eines Augenblickes noch geniessen können.
Mich eingeschlossen.

Falls du die Skripte und grünen Bohnen auf deiner Tour verteilst, kannst du mir noch ne frische Windel in den Briefkasten werfen?
Ne saugstarke, gerne. Meine ist voll.

So, ich habe fertig. 
Nix für ungut, Klaus. Aber das musste einfach mal raus.

Ich freu mich, von dir zu lesen! Kannst mir auch gerne eine DM über Insta schreiben.

Deine Noémie


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Ich hänge unter der Mail meine Signatur an, indem ich dezent auf meinen Blog verlinke.
Tja, qualitativ extrem hochwertiges Marketing kann ich eben. Auch wenn ich bezweifle, dass er sich in meinen Newsletter einträgt. 

Ich schmunzle über mich selbst, überfliege die Grammatik und drücke auf Senden.

Wunderbar.
Jetzt habe ich Zeit, nach pfiffigen Rezepten zu suchen.
Kann ja nicht schaden.

In diesem Sinne
Bleiben wir auf unserer Reise, es lohnt sich!

Noémie