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Macht Perfektion krank?
«Den Anschluss in die Berufswelt und ins Erwachsenwerden hast du ja völlig verpeilt», sage ich zu mir selbst. Ich höre mir aufmerksam zu.
Kurz vor meinem einundzwanzigsten Lebensjahr bin ich mir sicher, mein Leben ist schon längst vorbei.
Worum es genau geht?
Den Drang zur Perfektion.
Es ist eine verrückte Zeit, in der die inneren Dialoge mit meinem Perfektions-Riesen ihren Höhepunkt erreichen. Weil ich um alles in der Welt Ergebnisse sehen will, schenke ich seinen Argumenten eine unglaublich hohe Priorität.
Die Ergebnisse sollten nicht nur gut, sondern schlichtweg perfekt sein. Dadurch erhoffe ich mir, die «fehlenden» Jahre in meinem Lebenslauf zu vergessen und einen Job im ersten Arbeitsmarkt zu ergattern.
Ich will nichts mehr als einen gesellschaftlich, anerkannten Alltag. Die Lösung finde ich in perfekten Ergebnissen. So denke ich damals zumindest.
Wenn du magst, darfst du gerne in mein Gedankenkonstrukt in dieser Zeit eintauchen. Lange habe ich überlegt, ob ich das folgende Gedicht überhaupt veröffentlichen soll. Doch die Zeilen finde ich zu wichtig, um sie digital auf einem verstaubten USB-Stick vor sich hingammeln zu lassen.
Die Worte sind ungefiltert, nichts beschönigt.
Einfach so, wie ich sie damals zusammengefügt habe.
Also, los geht’s.
Wenn es dich nicht interessiert, einfach schwupps nach unten scrollen weiterlesen.
***
Perfektion
Ich renne, es ist ein Wettlauf gegen die Zeit,
schnell weg von der zermürbenden Krankheit.
Ich bin gesund, ich bin gesund, ich bin gesund,
schreibe mir die Finger wund,
es entstehen langsam Gedichte,
mache sie nachher wieder alle zunichte.
Denn perfekt müssen sie sein,
sind sie aber nicht, Nein!
Jede Zeile wird genau studiert,
jeder Reim dreimal analysiert.
Stundenlang habe ich damit verbracht,
zwischendurch mal an Schlaf gedacht.
Es kreist und ich finde nicht raus,
dieses Chaos laugt mich komplett aus.
Keine Ruhe, ich stecke mir neue Ziele
Ideen und Projekte habe ich viele.
Bunt gemischt von schwer zu unerträglich,
und so unerreichbar wie möglich.
Grenzen muss ich immer weiter verschieben,
Herausforderungen sind mir geblieben.
Meine Güte, was für ein Energieaufwand
um zu flüchten vor einem Stillstand.
Unruhig zapple ich hin und her,
dieser riesige Berg ist unglaublich schwer.
Bei diesem Anblick wird mein Gesicht blasser,
die Augen füllen sich mit Wasser.
Ich laufe auf den Felgen, egal,
nur noch dieses eine Mal,
joggen für den perfekten Körper,
Ausreden sind nur Wörter,
dann bin ich zufrieden, versprochen,
wieder zurück hab ich‘s gebrochen,
mein Versprechen, das ich halten sollte
und eigentlich mal wollte,
denn es sind wieder nur Worte
der gleichen Sorte
wie immer,
es wird zunehmend schlimmer.
Ich dachte wirklich, ich wäre zufrieden,
Fehlanzeige – ich muss neue Pläne schmieden.
Diesmal geht es um meine Schulnoten,
einmal mehr habe ich mich überboten.
Aber es geht noch besser, das ist meine Ansicht,
es geht um Leistung, oder nicht?
Es geht um das, was du morgen bist,
und nicht um das, was jetzt gerade ist.
Auf der Suche nach Anerkennung
agiere ich oft unter Hochspannung.
Rasant wächst die Dramatik,
in dieser gefährlichen Hektik.
Verblüfft erkenne ich zum Schluss,
diese Hochspannung ist mein Entschluss.
Diese Gegensätze sind ziemlich einengend
und wahnsinnig anstrengend.
Gegen aussen lasse ich aber nichts anbraten,
es folgen brav die nächsten grossen Taten.
So zieht sich der Teufelskreis hin
und kurz bevor ich dann fast stolz bin
auf das eben Erreichte
suche ich schnell wieder das Weite,
denn es schreit erneut in mir
sodass ich mein Hochgefühl wieder verlier:
„Du hast noch überhaupt nichts erreicht!
Du willst Ruhepausen? Hallo? Es reicht!
Du bist wohl völlig benommen,
wie willst du denn so an deine Ziele kommen?
Du bist zu faul und viel zu bequem,
das Leben ist nun mal nicht angenehm.
Los, pack es an, jetzt oder nie,
für was sonst machst du ne Therapie?
Du hast die Qual der Wahl,
entscheide dich aber endlich mal!
Es geht um uns, nicht nur um dich,
sei ehrlich, was wärst du ohne mich?
Ich glaube du weisst, was das dann heisst?“
Die Arme umschlingen mein Gesicht,
und weigere mich, dass es weiterspricht.
Die Antwort kenne ich auch
mit diesem mulmigen Gefühl im Bauch.
Mir ist plötzlich kalt und furchtbar heiss
verdammt, ja, ich weiss!
„Ich weiss, du bist völlig im Recht,
nun ist mir ganz schlecht.
Was dann wohl ist,
wenn du nicht mehr da bist,
ich dich auf den Mond klebe,
und alles mit dir aufgebe;
was bleibt mir dann noch?
dieses gewohnte, dreckige Loch.“
Ich unterbreche, alles ist so unwirklich,
ich werde ruhiger und nachdenklich.
Meine Seele fliegt an einen anderen Ort,
trotzdem setze ich fort:
„Wenn ich in dieses Loch sehe
Ja, nochmal, ich verstehe!
Ich will nicht nochmals alles verlieren,
die Krisenzeiten addieren,
gute Miene vorspielen,
innerlich aber Ratespiele spielen,
ob ich mit dieser Blutlache morgen wohl noch aufwache?
Gesund werden in der Psychiatrie,
grinsen ab dieser Ironie,
mit einem Friede, Freude, Eierkuchen
die nächste Zuflucht suchen
und erleben, wie die Tränen rinnen,
erneut von ganz unten beginnen.
Oh Nein, dahin will ich nicht zurück,
dafür gibt’s dich, was für ein Glück.
Denn wenn ich mich fest an dich kralle,
bist du die Sicherheit, dass ich nicht falle.“
Dieses Glück ist von kurzer Dauer,
die Abhängigkeit ist auf der Lauer.
Genau kann ich‘s nicht beschreiben,
das lässt sich einfach nicht vertreiben.
Vielleicht gibt’s im Hirn eine Funktion
wegen dieser Reaktion
oder es ist nur eine kleine Sanktion
für meine Lebenskonstruktion
und darum folgt eine nächste Lektion
in einer Nacht und Nebel-Aktion
mit einer riesigen Adrenalin-Produktion
zur glänzenden Attraktion;
der vollendeten Perfektion.
Kämpfe mit aller Kraft gegen diesen Wahnsinn,
denn am Ende wartet mein Gewinn;
kein grosser Geldschein,
sondern ein Atemzug lang frei sein.
Frei von allen Ansprüchen und Erwartungen,
auch sämtlichen Selbstabwertungen.
Frei von der Angst in ein Loch zu stürzen,
sie könnte mein Wille verkürzen,
endlich mein Leben zu leben
aber die Hoffnung auf den Atemzug nicht aufgeben.
Tief atme ich alles ein,
ich fühle mich ganz rein.
Es tut gut wie Balsam oder Salbei,
dann ist er aber schon wieder vorbei.
Der Augenblick, den ich mir so verdient habe
weicht erneut der unaufhaltbaren Aufgabe,
mich mit Perfektionismus zu belügen,
mir selbst niemals zu genügen,
noch lange nicht zufrieden zu sein,
so macht es den traurigen Anschein.
Diese Aufgabe bleibt nicht ungeweint,
weil sie so endlos erscheint.
Wenn ich in diesen Gedanken schwimme,
höre ich Aggressivität in meiner Stimme:
„Ich hasse dich so sehr,
oft kann ich einfach nicht mehr!
Es ist doch tatsächlich wahr,
du hast keine Ahnung offenbar,
wie du mich durch mein Leben hetzt,
mich mit deinen Aussagen verletzt,
zu unkontrollierten Heulkrämpfen verführst,
und mit deinem Wahn berührst.
Gleichgültig in welcher Situation,
drängst du mit deiner Perfektion.
Na herzlichen Dank
du machst mich noch krank!
Jemand der mir mein Leben zerbricht,
den brauche ich wirklich nicht!
Ich habe solche Angst,
was du als nächstes von mir verlangst.“
Vor lauter Tränen muss ich lachen,
das sind wohl die üblen Tatsachen,
dass der Perfektions-Riese wächst,
von gestern bis demnächst,
sich rasant schnell ausbreitet,
aber trotzdem niemand einschreitet.
Ich hab’s versucht, verflucht und probiert,
und schlussendlich doch resigniert.
Hoffnungslos bin ich, weil ich versteh,
es existiert keinen Plan B.
Dieser perfekte Riese, der mich antreibt
ist wohl alles, was mir bleibt,
denn im Endeffekt
fühlt er sich perfekt.
***
Heute hat sich meine Sichtweise verändert.
Ich weiss inzwischen, dass mich der perfektionistische Gedanke krank machen kann. Und dass ich mit ihm oftmals Lücken füllen möchte.
Doch die Lücken gehören zu meinem Leben.
Sie sind ein Teil von mir. Und weil ich die anderen Teile aktiv in mir stärke, wird er – praktisch nebenbei – immer kleiner.
Ohne Perfektion würde ich heute nicht da stehen, wo ich bin.
Dafür bin ich dankbar. Doch der unglaublich hohe Stundenlohn der Perfektion bin ich heute nicht mehr bereit zu zahlen.
Ich übe mich darin, gelassener zu werden und meine Ansprüche an mich auf ein gesundes Mass anzupassen.
Alles nur als netter Vorsatz getarnt?
Ähm, nö.
Mein Alltag bietet mir wunderbare Lernfelder, Tag für Tag:
Beim Kuchen backen.
Auf dem Laufband.
Bei der Steuererklärung.
Beim Meditieren.
Bei meiner Freizeitgestaltung.
Beim Einkauf der Lebensmittel.
Beim Schreiben.
Im Haushalt (da bin ich übrigens schon sehr gut).
„Erledigt“ kommt öfters vor als „perfekt“ in Bezug auf Ergebnisse. Alles andere lässt mich gar nicht erst beginnen.
Die Haltung, mein Leben gemütlicher und entspannter angehen zu lassen, fühlt sich befreiend an.
Es ist alleine meine Entscheidung.
Und nein, es gelingt mir nicht immer. Doch wie sagt man so schön?
Es geht nicht um immer.
Es geht um immer öfter.
In diesen Sinne
Bleib dran – es lohnt sich!
Noémie
2 Kommentare
Andy
Liebe Noémie
schon einige Tage hat sich der Gedanke in meinem Hirn festgekrallt mich bei dir zu melden. Aber was schreib ich blos, dass es auch perfekt ist. Egal, ich schreibe………..
Ich weiss nicht, ob du dich noch an mich erinnern kannst? Wir haben etwas Lebenszeit zusammen im Schlupfhuus verbracht. Du bist mir in meinem Herzen und meinen Gedanken immer wieder in guter Erinnerung.
Durch Therese bin ich auf deinen Blog gekommen.
Deine Worte haben mich berührt. Wow!
Ich würde mich sehr freuen dich einmal zu treffen, vielleicht einen Spaziergang zu machen, etwas auszutauschen, zu plaudern oder einfach unseren prächtigen, wilden Garten zu geniessen. Was meinst du? Ganz frei, ungezwungen, nicht perfekt.
Herzlich Andy
Noémie (Author)
Lieber Andy
Herzlichen Dank für deine persönlichen Worte – ich freue mich grad sehr, von dir zu lesen!
Meine elektronische Brieftaube habe ich soeben in die Richtung deines Mailbriefkasten losgeschickt. 🙂
Sonnige Grüsse und bis bald,
Noémie