Allgemein
Meine Narben und ich – die unzensierte Geschichte.
«Möchtest du nicht einmal langsam aufhören? Es sieht schlimm aus», sagt die Pflegefachperson.
Ihre Stimme klingt ernst.
Keine Ahnung, ob ich weinen oder lachen soll.
Die Selbstverletzungen nehmen einen erschreckend grossen Teil in meinem Leben ein, das ist schon richtig. Trotzdem glaube ich, keine Wahl zu haben.
Ich fühle mich süchtig. Süchtig danach, mich zu spüren, weil meine Gedanken einiges von mir fordern.
Viel zu viel.
Der körperliche Schmerz ist um einiges erträglicher als der Wirrwarr in mir drin. Da interessiert es mich doch nicht, wie ich aussehe.
Unfähig, eine Antwort zu formulieren sitze ich einfach nur still da.
Mit siebzehn, in der Wundpflege der Jugendpsychiatrie.
Ja, meine Haut sieht echt mitgenommen aus. Doch lieber gehe ich nie wieder in ein Schwimmbad als etwas aufzugeben, was in den härtesten Zeiten zu mir gestanden hat. Wenn es nur so einfach wäre, damit aufzuhören.
Viele Emotionen gehen durch meinen Körper, doch Humor ist nicht dabei.
Einige Zeit später reitet mich die Idee, die Narben subito weghaben zu wollen.
Sie sollen verschwinden.
Möglichst jetzt.
Mein erster Gedanke: Die Narben weglasern lassen.
Die Recherche zu dieser Methode ist nur von kurzer Dauer.
Sehr kurzer.
Sie endet abrupt bei den Preisabgaben im Internet. Bei den Zahlen lasern sich mir beinahe die Augen weg.
Andere Idee.
Eine coole Tätowierung darüber machen.
Also machen lassen.
Zu diesem Thema gibt das Internet wenig her, also nehme ich all meinen Mut zusammen und gehe persönlich in einem Studio vorbei.
Mein Fazit, als ich den Laden wieder verlasse: Es ist nicht so einfach, wie ich es mir vorgestellt habe.
Der Tätowierer, der sich für ein sogenanntes Cover-Up spezialisiert hat, erwartet von mir, zwei Jahre selbstverletzungsfrei zu sein. Zudem kann er mir nicht garantieren, ob das Gewebe die Farbe tatsächlich annimmt. Es ist gut möglich, dass das Bild am Ende zu hell, zu verzerrt oder zu dunkel aussieht.
Das wäre dann scheisse.
Scheisse mit Farbklecksen.
Als wäre das nicht schon abschreckend genug, ist auch hier die finanzielle Frage das Ausschlusskriterium.
Bevor das Brainstorming endet, entdecke ich die vermeintliche Rettung im Fernsehen.
Eine Dame verteilt ein bestimmtes Öl auf ihrer Haut, welches gut sein soll für Dehnungsstreifen und Narben. Am Ende der Werbung gibt es ein Happy End: sie hat keine Narben mehr.
Na dann, herzlichen Glückwunsch.
Kurze Randbemerkung: Sie hatte auch vor der Einschmier-Prozedur keine.
Ich kaufe das Produkt trotzdem.
Entweder bin ich so verzweifelt oder es passt zur Abwechslung in meine Preiskategorie.
Ziemlich schnell wird klar: Das Geld hätte ich auch locker zum Fenster hinauswerfen können.
Auch wenn ich im Erdgeschoss wohne.
Tja, ich komm nicht drum rum.
Meine Problemlösungsversuche bleiben sichtbar und ich muss mich damit abfinden.
Es folgt eine Zeit in meinem Leben, in der ich mich teilweise mit meiner Krankheit identifiziere. Es ist eine verrückte Zeitspanne, in der ich meilenweit davon entfernt bin, zur Gesellschaft zu gehören.
Manchmal bin ich überzeugt, nur aus kranken Anteilen zu bestehen.
In der trostlosen Welt meines Innenlebens geben mir diese Anteile Halt, auch wenn es komisch klingt. Die Leere wird dadurch greifbarer und deshalb etwas angenehmer auszuhalten.
Die Phase endet, als die beruflichen Perspektiven kommen.
Die Selbstverletzungen gehen.
Die Narben bleiben.
Also höchste Zeit, einen Umgang damit zu finden.
Mein Übungsprogramm? Unter Menschen gehen und schauen, wie sie (und ich) reagieren.
Erstmal nur für fünf Minuten ohne Jacke. Ich will ja nichts überstürzen.
Sie starren.
Als würde ich unaufgefordert im Rampenlicht stehen.
Ich fühle mich unwohl, weil die Situation auch für mich neu ist. Plötzlich im Rampenlicht stehen und nicht mehr wissen, weshalb ich auf der beleuchteten Bühne gelandet bin.
Rampenlicht steht mir nicht. Ich bin eher für Nachttischlämpchen.
Trotzdem bleibe ich dran.
Aus fünf Minten werden zwölf, aus zwölf werden zwei Stunden.
Einen Schritt nach dem anderen.
Meine Mission dabei? Die Dinge so akzeptieren, wie sie sind.
Ein paar Jahre später fahre ich mit einer Freundin an den Gardasee.
Sommerferien, Gelati, schwimmen.
Beinahe schockiert erwähnt sie, dass die Leute ja extrem starren würden.
Ganz ehrlich? Es ist ein sehr schöner und wichtiger Moment für mich – denn mir fallen die Blicke nicht mehr auf.
Mittlerweile bin ich überzeugt, dass die Leute besseres zu tun haben, als mich zu bewerten. Vermutlich sind sie mit ihrem eigenen Kram beschäftigt, den sie vielleicht auch loshaben oder verstecken möchten.
Krampfadern.
Negative Glaubenssätze.
Schlecht gestochene Tattoos.
Muttermal.
Schulden.
Gutmütige Winkearme.
Die Schwiegermutter.
Wir sitzen irgendwie doch alle im selben Boot.
Muss ja nicht ein knallrotes aus Gummi sein.
Ich bin nicht stolz darauf, was ich mir selbst angetan habe. Doch so viel Fürsorge bleibt, im Sommer nicht mit dem Skianzug durch die Gegend zu hoppeln oder Verklebungen in der Massage zu lösen.
Obwohl meine Haut phasenweise etwas ungewöhnlich aussieht, kann ich ohne Probleme arbeiten gehen, Bohnen einkaufen, Steuern zahlen oder die Fussball-Weltmeisterschaft verfolgen. Ich bin sogar in der glücklichen Lage, zwei gesunde Beine zu haben und Augen, die meine Umgebung wahrnehmen können.
Nicht alle sind mit diesem Glück gesegnet. Dafür bin ich enorm dankbar.
Es liegt bei mir, mich mit meinem Körper anzufreunden. Etwas subito weghaben zu wollen, was sich über eine viel längere Zeit aufgebaut hat, kann auf Dauer irgendwie nicht gut gehen.
Weder bei Narben, noch bei Krisen oder einem Körpergewicht, das nicht dem BMI entspricht.
Lassen wir uns von Abweichungen einer behaupteten Norm nicht einschränken.
Wir sind mehr als das, was da im Kopf herumschwirrt.
Und mehr als unsere Verhaltensweisen!
In diesem Sinne
Bleib dran – es lohnt sich!
Noémie
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…und wenn ich rückfällig werde?