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Mit Kräuteressig durch die Stadt St.Gallen

Meine Krankenkasse schickt mir ungefragt einen Prospekt.
«Vorteilsangebote für einen gesunden Lebensstil», steht da. Darunter glänzt Werbung für eine App, die mit frischen Rezepten wie Apfel-Hirse-Porridge wirbt und daneben rührt sie die Werbetrommel für endloses Rutschvergnügen in einem Wasserpark.
Ich kann fünfundzwanzig Prozent Rabatt sparen.

Hm.

Hört sich nett an, keine Frage. Aber auch ein wenig nach Tschakka. Ich kann mir kaum vorstellen, auf einem aufblasbarem Badetier rumzurutschen und – zack – Wolke sieben. Da fehlt mir etwas die Nachhaltigkeit.

Nachhaltig fühlt sich jedoch das Bedürfnis an, mit meinem Drahtesel in die Stadt zu radeln und Salat zu kaufen. Also schnappe ich mir die zweirädrige Büchse und trete in die Pedale. Dazu ein Podcast über Hingabe und es ergibt sich fast schon eine Note von gesundem Lebensstil.

Einfach nur kurz mir selbst gehören 

Angekommen in St.Gallen.
Ich kaufe Kräuteressig, Äpfel der Sorte Braeburn und in Plastik verpackte Kopfsalatherzen. Spontan entscheide ich mich, eine Ehrenrunde durch die Stadt flanieren zu wollen. Wegen Platzmangel blinzelt der Deckel des Essigs aus dem Rucksack, was mich zum schmunzeln bringt. Andere tragen ihre Babys auf dem Rücken.
Auch schön.

Zwischen charismatischen Gassen spaziere ich in Richtung Klosterplatz. In den Schaufenstern entdecke ich die Umrisse meines Körpers, die erfolgreich ausserhalb der Modetrends gekleidet sind. Ich bin dick eingepackt, als wäre ich auf einer zweiwöchigen Expedition in der Antarktis unterwegs. Dabei findet der Frühling statt und Menschen in kurzen Hosen düsen auf Fahrräder mit Elektromotoren an mir vorbei.

Alles gut, das ist die klassische Gfrörli-Noémie.
Ich laufe weiter.

Heute sind es ruhige Gassen der Stadt, genau mein Geschmack. Lediglich die 2m Sicherheits-Markierungen am Boden und die auffällig roten Plakate vom Bundesamt für Gesundheit deuten darauf hin, dass doch noch etwas Unruhe in der Luft liegt. 

In der Morgensonne geniesse ich einen Apfel und lasse die Gedanken schweben, ohne sie in eine bestimmte Richtung drängen zu wollen. Es geht um das Aufräumen meiner Seele, grosse Entscheidungen, das Verarbeiten von Weltwundern und wie merkwürdig es ist, Freude daran zu haben, mit Kräuteressig huckepack durch meine Welt zu spazieren.

Ich bin weder beschäftigt mit den Erinnerungen der Vergangenheit, noch mit dem Planen einer hoffnungsvollen Zukunft. Es fühlt sich wie eine Auszeit an von dem, was sich mein Alltag nennt. 
Nichts spektakuläres, aber wohltuende Stunden. Einfach nur ein Tag, an den ich mich erinnern will.

Fernab von hochgradig verrückten Blogartikeln.
Nur normal verrückt. 

Und was ist jetzt mit dem gesunden Lebensstil?

Mein Leben neu verhandeln, sagt ein Therapeut. Angebote für einen gesunden Lebensstil, nennt es meine Krankenkasse. An Braeburn-Apple a day keeps the doc away, verspricht eine Weisheit. Mit Kräuteressig durch St.Gallen spazieren, nenne ich es heute.

Kräuteressig allein ist aber auch keine Lösung.

Ich brauche den Mut, in mein Leben reinzuwachsen. Die Zartheit, meine Verletzlichkeit anzunehmen. Das Selbstmitgefühl, mein Leben auch dann zu mögen, wenn ich aus der Kurve fliege und sogar beim Weckton wieder einschlafe. Ich brauche meine Erlaubnis, mein Nervensystem an die Hand zu nehmen und schrittweise an hohe Energiezustände zu gewöhnen.

Ich kann mir eben auch was Gutes antun, wenn ich das leere Stück Lebensrolle vor mir mit Lebendigkeit fülle. Für einen gesunden Lebensstil brauche ich die radikal ehrliche Reflektion, was zu viel, was zu wenig und was genau richtig ist in meinem Leben. 

Meine aktuellen zwei Lieblingsfragen: 
Was lässt mich wacher werden (Cola und kalte Duschen ausgeschlossen)?
Was nimmt mir Lebendigkeit?

Aus solchen Fragen entsteht für mich ein gesunder Lebensstil, der zählt. Da können 25% Rabatt einfach nicht mithalten.
Äxgüsi, liebe Krankenkasse.

In diesem Sinne
Bleiben wir gemeinsam dran – es lohnt sich!

Noémie