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Mittendrin statt nur dabei – meine Lesung am Psychiatriekongress!

Ich sitze im Zug und nippe an meiner Petflasche.

Ok, der Artikel könnte mit etwas mehr Dramatik starten.
Doch ganz so unspektakulär fühlt es sich nicht an.

Meine Reise geht in die Hauptstadt, nach Bern zum Psychiatriekongress. Zwei Tage Recovery, zwei Tage seelische Gesundheit auf einer internationalen Veranstaltung.
Und meine erste Lesung.

Ich bin erstaunt, wie ruhig ich bin.
Vor vier Tagen war ich nämlich überzeugt, meine Nervosität nicht zu überleben. Meine innere Uhr nimmt es manchmal nicht so genau.
Vielleicht brauche ich mal wieder ein Update auf meiner mentalen Festplatte.

Aber jetzt, im Zug, fühle ich mich so etwas wie gelassen. Schliesslich muss ich keine hochkomplizierten Studien über die Konstellation der Sterne erläutern oder die Nordpol-Expedition im knappen Bikini meistern. Das erleichtert ungemein.
Ich trage meine eigene Geschichte vor.
Dazu reicht es vollkommen aus, ich selbst zu sein.

Am Zielort checke ich im Hotel ein. Auf dem Weg zum Kongress zappe ich durch meine Playlist auf dem Handy, ohne einem Song überhaupt eine Chance zu geben. Die ganzen Umstände bewegen mich im positiven Sinne.

Am ersten Kongresstag werde ich in unglaublich berührende Gespräche verwickelt, lerne wundervolle Menschen kennen und schreibe meine Gedanken fleissig mit. Die Rednerinnen und Redner aus aller Welt schenken mir wichtige Inputs zum Thema Recovery.
Dieses Geschenk nehme ich gerne an.

Ich fühle mich da abgeholt, wo ich bin. Trotzdem steht der Abholservice nicht im Programm.

Tag zwei.
Vor meiner Lesung kann ich den Rednern auf der Bühne bestens folgen. Sogar meine Darmzotten sind so entspannt, als würden sie genüsslich in der Hängematte vor sich hin baumeln.

Beim Mittagessen bin ich dann doch nicht mehr so tiefenentspannt, weil es nicht mal mehr eine halbe Stunde bis zum Beginn der Lesung geht.
Ich begebe mich in den Raum, in dem die Vorlesung stattfindet. Nach und nach füllt er sich. 

Es kribbelt in mir. Meine Darmzotten scheinen aus der Hängematte zu fallen. 
Weil ich das Bärchenplaster der ultimativen Vorbereitung nicht dabei habe, konzentriere ich mich auf den Atem. 

Tief Atmen, Noémie.
Ich führe Selbstgespräche.
Die Leute hier drin sind auch nur Menschen. Sie werden mich nicht mit Mistgabeln angreifen oder mit rohen Eiern bewerfen. Obwohl letzteres durchaus gut sein soll für die Stärkung der Haare.

Wir sind bei einem Psychiatriekongress. Die Chancen stehen also optimal, dass sich die sozialen Leute alle wunderbar liebhaben.
Meine inneren Dialoge werden romantischer.

Bevor es kitschig wird, trinke ich noch einen Schuck Cola. Zur Beruhigung oder zum Aufputschen, ich weiss nicht genau. Aber es funktioniert.

Der Raum ist rappelvoll. Komplexe Gehirnaktivitäten kriege ich definitiv nicht mehr hin. Doch ich fühle mich wohl.
Zumindest entdecke ich nirgends eine Mistgabel.

Hoppla, ich bin wirklich mittendrin statt nur dabei!

Pünktlich geht’s los.

Ich werde von einer Dame des Kongresskomitees anmoderiert.
Ihr Herz schlägt unter anderem für Hunde und grüne Bohnen aus der Dose. Sie mag keine Zwiebeln und hält sich von Achterbahnen fern.

Der ganze Raum lacht ausgelassen. Ich lache mit.
Humor hilft auch bei Nervosität. Memo an mich selbst.

Dann darf ich das Wort übernehmen. Ich spreche meine ersten Sätze und spüre, wie ruhig sich mein Körper verhält. Es gelingt mir, klare Töne von mir zu geben.
Nicht der obligatorische Blockflötenunterricht, sondern meine Recovery-Geschichte.

Immer wieder blicke ich die Menschen an, die mir gegenübersitzen. Sie bleiben auch nach fünf, zehn und zwanzig Minuten sitzen. Wahnsinn!
All diese Leute haben sich einen Termin in ihrer Agenda freigehalten, damit sie heute da sind.
Sie hören mir freiwillig zu. Und wie sie das tun… ich könnte eine Nadel fallen hören!
Mehr Wertschätzung geht einfach nicht.

An manchen Stellen blicke ich in mitfühlende Gesichter, an anderen lacht das Publikum mit mir mit. Das nenne ich zwischenmenschliche Kommunikation in ihrer berührendsten Form.

Nach fünfundzwanzig Minuten ist die Lesung zu Ende. 
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Die Leute klatschen.

Dankbar setze mich wieder auf meinen Stuhl und freue mich auf das weitere Vorgehen.
Zwei andere Autoren tragen ihre Lebensgeschichte vor.

Unglaublich berührend, wie das Leben ihre Geschichten schreibt und wie unglaublich viel Kraft in einem einzigen Menschen stecken kann.
Ein netter Herr erzählt aus seinen Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie im Jahre 1981 und wie ihm die Flucht aus der Psychiatrie und Psychose gelingt.
Eine sympathische, junge Frau beschreibt ihre Genesung mit einer bipolaren Erkrankung. Das Leben zwischen Himmel und Hölle, wortwörtlich!

Trotz allem Leid in den Geschichten sind sie immer wieder mit einer Prise Humor versehen. Das berührt mich total! Mir fehlen schlichtweg die Worte.

Nach den Lesungen sitzen wir zu dritt vor dem Publikum, beantworten Fragen und nehmen die Rückmeldungen freudig entgegen.
Dann gibt die Zeit vor, dass unsere Lesungen zu Ende sind. Wieder erklingt Applaus.
Diesmal hört er nicht so schnell auf.

Die ersten Menschen verlassen ihre Sitzposition und stehen auf. Sie applaudieren und machen keine Anstalten, aufzuhören.

Standing Ovation.

Nein, Noémie, das ist kein Film.
Da stehen wirklich fremde Menschen vor dir und applaudieren.
Mit sowas hätte ich niemals gerechnet!

Mir treibt es die Tränen in die Augen.
Wahre Begeisterung lässt sich eben nicht spielen.

Nach einer atemkonzentrierten Noémie-Pause setze ich mich in den nächsten Vortrag.
Also körperlich.
Ich bin einfach noch viel zu überwältigt von den Eindrücken und grinse mein geöffnetes Notizbuch an.
Unfähig, einem Gedanken zu folgen oder auch nur ein Wort zu schreiben.
Von aussen betrachtet gebe ich bestimmt ein unterhaltsames Bild ab.

Nach dem Kongress bleibe ich noch eine Nacht in Bern und sauge die Energie der Stadt in mich auf.
Der Verarbeitungsprozess läuft auf Hochtouren. 

Objektiv betrachtet waren das nur zwei kleine Tage meines Lebens.
Subjektiv betrachtet möchte ich dieses Gefühl an diesen Tagen umarmen und mich liebevoll darin einkuscheln.
Es gibt Momente, die sich in der Gedächtnisecke für ganz schöne Erinnerungen einrichten. Das können kurze Wortwechsel, eine herzliche Umarmung oder nur ein kurzer Blickkontakt sein, der meinem Gegenüber sehr wahrscheinlich gar nicht aufgefallen ist.
Der Kongress schenkt mir ganz viele solcher Momente.  Falls das jemand lesen sollte, der dabei war: Vielleicht hast genau du mir diesen Moment ermöglicht. 

Gerne lasse ich die Tage auf mich wirken und stöbere in meinen Notizen.

Genesung geht uns alle etwas an. 
Dabei ist es egal, ob wir direkt Betroffene, Angehörige oder Fachpersonen sind. Krisen werden kommen. Oftmals bringen sie eine unangenehme Kondition mit. Und schon sind wir ungefragt mittendrin und möchten doch gar nicht dabei sein. 

Vielleicht geht es in solchen Momenten darum, uns selbst ein Standing Ovation zu schenken.
Wegen den unzähligen Tagen, an denen wir nicht aufgeben.
Wegen der Entscheidung, überhaupt einmal anzufangen.
Wegen dem Mut, sich von Herausforderungen berühren zu lassen. Und weil wir unser Leben an die Hand nehmen und uns immer wieder auf die Beine stellen.

Ja, Krisen werden kommen.
Doch die Genesung auch.

Wir sind so viel mehr als wir denken.
Wir können so viel mehr, als wir glauben. Das hat mir der Inhalt des Kongresses wunderbar aufgezeigt. 

In diesem Sinne
Bleiben wir dran – es lohnt sich!

Noémie

Ein grosses und herzliches Dankeschön an das Kongresskomitee für die Einladung und die Möglichkeit, diese einzigartigen Erfahrungen überhaupt machen zu dürfen!
Vermutlich werden diese Zeilen die zuständigen Personen nicht erreichen, doch meiner Dankbarkeit möchte ich hier trotzdem sehr gerne Raum geben.