Allgemein

Panikattacken – ein Hinweis, an meinen Werten vorbeizuleben!

Nachdenklich blicke ich aus dem Fenster. Da sind sie also. Die schrumpeligen Fetzen meiner geplatzten Träume, die nun vom Himmel fallen.

Ich sitze im Zimmer einer psychosomatischen Klinik und versuche mir einzureden, dass es schon okay ist. Das neue Leben hat mich das alte gekostet, obwohl ich gar nicht vor hatte, mein Leben zu ändern. Selbst für eine Midlifecrisis bin ich mit meinen sechsundzwanzig Jahren noch zu jung.
Der gedrängte Neuanfang ist trotzdem da. Mal wieder.

Zugegeben, meine Jugendzeit ist weniger durch Alkohol und Partynächte geprägt. Viel eher bin ich mit meinem Leben so dermassen überfordert, dass mir die Psychiatrie beinahe einen eigenen Briefkasten zur Verfügung stellt. Immer wieder überrollt mich die Frage nach dem Sinn in meinem Leben, auf die ich nur mit einem resignierten Schulterzucken antworten kann.
Durch die Umstände verliere ich meinen Ausbildungsplatz. Ich versuche meine Ängste mit Selbstverletzungen zu klären, doch mein Erleben bleibt düster und der Wunsch nach einer Ausbildung weicht in unerreichbare Ferne. Aufgrund meines labilen, psychischen Zustandes werde ich mit achtzehn Jahren berentet.

Es dauert fünf weitere Jahre, in denen ich mich mit Hilfe einer professionellen Therapie, dem Laufsport und viel Geduld zurück ins Leben kämpfe und eine Ausbildung zur Logistikerin abschliesse.
Ich brauche 24 Jahre, um im Leben anzukommen – und dann geht es richtig los! Ich setze meine Träume in die Tat um – finishe meinen ersten Marathon und erhalte einen berufsbegleitenden Studienplatz zur Sozialpädagogin. Ich bin begeistert, was das Leben plötzlich alles bieten kann. Obwohl ich in meiner Wohnung sitze, bin ich total aus dem Häuschen. Das ist definitiv der Höhepunkt meines bisherigen Lebens!

Meine Welt ist in Ordnung – zumindest von aussen

Doch innerlich plagt mich die Angst, den erkämpften Status wieder zu verlieren. Als angehende Fachperson bin ich ja schliesslich «gesund», zumindest ist das meine Überzeugung. Ich strenge mich doppelt an und spüre, wie ich meine Ansprüche an mich selbst immer weiter nach oben setze. Ich feile so an meiner Rolle als Studentin, dass ich gar nicht mehr wahrnehme, wie sich mein gesamtes Leben nur noch um die Ausbildung dreht.

Es folgt der einschneidende Moment, in dem ich mir sicher bin, mein Leben nicht zu überleben. Mir ist heiss, kalt und übel zugleich. Mein Herz rast und bleibt gleichzeitig stehen, während meine Welt viel zu schnell Karussell fährt.

Ich überlebe. Und erlebe die kleinen Tode in den nächsten Tagen erneut. Mein Körper produziert Panikattacken, wie ich es nie zuvor erlebt habe. Mein Zustand verschlechtert sich von Woche zu Woche.

Von meiner Hausärztin werde ich krankgeschrieben und zur psychosomatischen Rehabilitation angemeldet. Ich habe Angst und will mein Studium einfach nicht verlieren. Ich fühle mich innerlich so zerrissen zwischen Patientin und Studentin, dass sich mein Notizbuch beinahe von alleine füllt.

Ein paar kräftezehrende Wochen des Wartens später bin ich tatsächlich hier. In der Klinik und betrachte die schrumpeligen Fetzen, die mal der Höhepunkt meines Lebens darstellten. Krise als Chance… bäh! Ich habe schon deutlich bessere Witze gehört.

Obwohl ich krankgeschrieben bin, arbeite ich trotzdem ständig. An mir und meiner Karriere, die so schön hätte beginnen können. Aber wem um Himmels Willen möchte ich etwas beweisen? Meinem Chef? Meinem Nachbar? Den Fuseln, die da über den Boden gleiten?

Auf der Suche nach Antworten lande ich immer bei mir. Aber was will ich mir denn beweisen? Dass ich «es» geschafft habe? Ja, was denn geschafft?

Am Ende des Lebens interessiert es die Fuseln auf dem Boden nicht, wie ich mein Leben gelebt habe. Bestenfalls habe ich sie vorher weggemacht mit so einem Wunder-Staubwischer. Meinen Nachbar interessiert es übrigens auch nicht, was ich tue und was nicht (ausser ich stelle die Abfallsäcke einen Tag vor der Müllabfuhr an die Strasse, aber das ist eine andere Geschichte).
Am Ende des Lebens bin ich nur mir selbst Rechenschaft schuldig. Der Welt schulde ich keine wissenschaftliche Karriere. Mir übrigens auch nicht.

Der wunde Punkt entwickelt sich zu einem Wunderpunkt

Am Tiefpunkt in der Klinik lese ich in einer Zeitschrift folgende Fragen: Wie hätte ich mein Leben gerne verbracht? Nach welchen Grundwerten hätte ich gerne gelebt? Welche inneren und äusseren Hindernisse halten mich derzeit davon ab, meine Werte zu leben?

Diese Fragen lassen mich aufknacken wie eine Nussschale. Plötzlich ist es ungewohnt ruhig in mir drin. Ich fühle mich emotional nackig, während ein wichtiger, fast schon magischer Moment passiert: Ich begegne mir selbst. Mir und meinen Werten.

Diese Begegnung bildet die wichtige Basis für die Therapie. Ich lerne, dass die Panikattacken nicht aus heiterem Himmel über mich herfallen, sondern dass sie System haben. Sie sind ein Produkt meiner Gedanken und Gefühle und eine Art hausinterne Alarmanlage, wenn ich drohe von meinem Weg abzukommen. Einen Weg, der wenig mit meinen wirklichen Werten zu tun hat.

Die Panikattacken sind ein Hinweis darauf, nicht nach meinen Werten zu leben. Ziemlich überzeugend dachte ich nämlich, dass es die meine waren. Doch es waren nur vorgegaukelte meines Egos.

Jetzt bin ich dran. Noch in der Klinik kündige ich meinen Arbeitsplatz und gebe meinen geliebten Studienplatz für jemand anders frei. Ich brauche mich jetzt mehr als meinen Beruf.

Ich erkenne immer deutlicher, dass es sich beim Studium um Losloassen und nicht um Verluste handelt. Trotzdem habe ich keinen Plan, wie mein Leben weitergehen soll. Weder beruflich, noch privat und finanziell.

Alles, was man manchmal braucht ist eine zweite Chance, die man sich selbst zu geben hat.

Ich habe viel Zeit, um nachzudenken. Und tu es auch. Um meine kranken Jugendjahre schnellstmöglich aufzuholen, habe ich den Plan, so schnell wie möglich jemand zu sein. Aus diesem Grund rase ich mit Vollgas auf der Überholspur meines Lebens. Dabei fahre ich die Zweifel, ob mich das erfüllt, was ich mache, komplett über den Haufen. Schliesslich bin ich jung, in den tollsten Lebensjahren, und was da sonst noch alles von der Gesellschaft suggeriert wird.

Statt auf der Überholspur sitze ich nun mit Leitplanken im Popo auf dem Pannenstreifen. Ich vergesse nämlich, dass der Prozess dazugehört, jemand zu werden.

Und während ich da höckle und die rasenden Autos beneide, die an mir vorbeiziehen, erkenne ich, dass ich doch schon lange jemand bin. Die Noémie. Mit all ihren Macken, Schwächen und Talenten. Diese Erkenntnis fliesst mit unzähligen Tränen direkt in mein Herz.

Auch wenn ich es mir lange nicht eingestehen möchte, brauche ich diese Erfahrung. Als kontrollfreudiger Mensch lerne ich endlich, zu vertrauen. Geduldig zu sein mit meinem Herzen und seine feinen Hinweise ernst nehmen. Es gelingt mir immer besser, die Stille auszuhalten und die Angst zu akzeptieren. Denn ich produziere meine Angst selbst. Sie ist ein Teil von mir.

In der unfreiwilligen Pause auf dem Pannenstreifen habe ich die Möglichkeit, die interne Alarmanlage genauer zu analysieren. Ich lese das erste Mal die Bedienungsanleitung für den Umgang mit mir selbst, statt wild auf dem Apparat herumzudrücken, bis er kaputt ist.

Die Stimme des Herzens sprudeln lassen

Die grosse Umstrukturierungsphase in meinem Leben ist nun zwei Jahre her. Heute arbeite ich in meinem erlernten Beruf bei einem Unternehmen, bei dem der Gesundheitsgedanke absolut im Zentrum steht. Ich treibe Sport, ernähre mich gesund, pflege meine Freundschaften und den Blog. Mir geht es gut. Die Alarmanlage ist nicht in Betrieb. Das bedeutet für mich: Ich bin auf meinem Weg.

Natürlich gibt es die extrem miesen Tage auch noch. Alles andere wäre romantisches Wunschdenken. Der Unterschied liegt darin, die anstrengenden Stunden nicht mehr zu verweigern. Hin und wieder habe ich Angst. Und das ist gut so, weil ich sie akzeptiere und nicht vorgebe, nicht ängstlich zu sein. Es geht nicht mehr um die Frage, wie ich weniger ängstlich werde. Sondern was da Neues in mein Leben möchte – und ob das Neue auch tatsächlich zu meinen Werten passt.

Das Leben beginnt im Kopf und wird erst im Alltag so richtig lebendig. Es ist mein Hobby, mir mein Leben im Kopf so zu gestalten, dass es mir wieder gut dabei geht. Ein berührendes Brainstorming fängt doch erst mit Mut an. Und endet mit lebendigen Geschichten in unserem Alltag.
Die beste Zeit liegt vor uns und wartet freudig darauf, entdeckt zu werden. Wir haben alle nur ein einziges Leben, nutzen wir es!

In diesem Sinne
Bleiben wir dran – es lohnt sich! 

Noémie

Übrigens: Diesen Blogartikel kannst du auch in der DAZ (Deutsche Angstzeitschrift) nachlesen. Schau doch mal auf der Homepage Angstselbsthilfe bei Angststörungen vorbei!
Bei der Zeitschrift handelt es sich um eine wertvolle Verbindung zwischen wissenschaftlichen Expertenbeiträgen, persönlichen Berichten von Betroffenen sowie der Hilfe zur Selbsthilfe.