Interview

„Setze auch mal deinen Trotzkopf durch!“

Peter ist ein leidenschaftlicher Mountainbiker, der das Leben auskostet. Der Ostschweizer geniesst die Natur und steht mit beiden Beinen im Leben.
Durch einen schweren Unfall wird er mit 45 Jahren aus diesem Leben gerissen. Er zieht sich eine schwere Wirbelfraktur zu und wird halsabwärts gelähmt – damit beginnt seine intensive Reise zu Recovery.

Heute ist Peter 58 Jahre alt und arbeitet wieder als Produktionsmitarbeiter in der Pharmaindustrie – ohne Rollstuhl!
Ich freue mich riesig, das Gespräch mit Peter mit dir teilen zu dürfen! Offen und ehrlich erzählt er über seine überaus schnelle Genesung und die einzelnen Schritte zurück ins Leben.

Peter’s unglaubliche und zugleich berührende Geschichte macht Mut und Hoffnung – lass dich von ihr inspirieren!

Kannst du dich noch an den Tag erinnern, der dein Leben schlagartig veränderte?

Ja. Es war an einem schönen Freitagnachmittag im 2008. Mit meinem Bike fuhr ich von der Arbeit nach Hause, ziemlich euphorisch trat ich in das Pedal. Am Samstag wollte ich nämlich an ein Openair in Appenzell. Geblendet von der Sonne hatte ich eine eher gebückte Haltung und in dem Moment, indem ich aufblickte, sah ich diesen Lieferwagen vor mir. Obwohl ich bremste, krachte ich kopfvoran in den Lieferwagen. Zum Glück hatte ich einen Helm auf.

Als ich mich nach dem Aufprall am Boden bewegen wollte, um mich zu orientieren, habe ich gemerkt: Scheisse, ich kann meine Beine nicht mehr bewegen. Jemand kam an die Unfallstelle, etwas später war der Krankenwagen da. Ich hörte die Worte: «Ja, das ist Wirbelfraktur, wir brauchen die Rega!». 
Ich erinnere mich noch, wie ich dachte: Oh nein, oh nein, ich bin gelähmt! Danach wurde es schwarz. Aufgewacht bin ich nach einem künstlichen Koma im Paraplegiker-Zentrum in Nottwil auf der Intensivstation – vom Hals abwärts gelähmt.

Wie bist du mit der völlig neuen Situation zurechtgekommen?

Der Anfang war ziemlich hart und ich spürte den Frust in mir. Vom gesunden Kerl wurde ich plötzlich zu einem Stück Fleisch. Mich nur noch mit dem Kopf bewegen und mich nicht mal mehr gegen eine Fliege wehren zu können, war Horror. Immer wieder weinte ich, weil die Situation so ausweglos schien.

Und dann gab es die anderen Momente. Bei einer Arztvisite konnte ich meine Finger und Zehen einen Millimeter bewegen. An diesen Erfolgserlebnissen baute ich mich auf. Ich versuchte alles Negative von mir wegzuhalten, das ging natürlich nicht immer. Mein Weg zurück ins Leben verlief wellenförmig, mit vielen Tränen und guten Tagen. Nach zwei Wochen Intensivstation ging es los mit der Therapie, den ganzen Tag. Mein Vorteil war, dass es immer einen Schritt vorwärts ging. Zum Beispiel konnte ich meinen Arm immer etwas höher heben. Es wurde besser und dann gab es kein positives Halten mehr!

Die Ärzte sagten mir trotzdem, dass es nicht sicher ist, wieder aus der Lähmung zu kommen. Das wollte ich nicht hören. Also bin ich in der Zeit der Visite abgehauen – mit dem Elektrostuhl in den Garten. Ich habe versucht, all das Positive ins «Jetzt» zu bringen. Hätte ich gemerkt, dass meine Heilung stagniert, hätte ich auch noch in zwei Monaten darüber trauern können. Umso fleissiger war ich dafür in der Physiotherapie. Je länger der Aufenthalt dauerte, desto sicherer war ich mir, dass «es» wieder kommt.

Woher hast du diese immense Kraft geschöpft?

Vor allem aus dem Rückhalt meiner Familie und meinen Freunden. Da waren so viele Menschen, die mich unterstützten, an mich geglaubt und für mich gebetet haben. Manchmal sind sie durch die halbe Schweiz gefahren, nur um mir eine Kleinigkeit zu bringen. Ich hatte und habe ein richtig gutes Umfeld – dadurch bekam ich viel Zuspruch und positive Energie.

Dazu haben mich die sichtbaren Fortschritte motiviert, weiterzumachen und an meine Heilung zu glauben. Und zum anderen weiss ich sicher: Wenn du in einer Ausnahmesituation bist, glaubst du nicht, wie viel Kraft du dann hast. Sogar auf der Intensivstation habe ich mit der Pflegerin Witze gemacht.

Hast du ein Beispiel?

Als Tetraplegiker bekommst du ein Gerät, welches du mit dem Mund bedienen kannst, wenn du Fernsehen schaust. Damit kannst du Sender wechseln und die Lautstärke anpassen. Eine Pflegerin hat einmal vergessen, mir dieses Gerät zu geben. Und es lief die Sendung «Gute Zeiten, schlechte Zeiten». Es war schrecklich. Noch nie habe ich mir sowas angesehen und ich werde es auch in Zukunft nie tun. Aber ich konnte mich damals nicht wehren. Als sie wieder kam, sagte ich ihr, dass ich diese furchtbare Sendung schauen musste, weil sie mir das Gerät vergessen hatte hinzustellen. Obwohl die Situation nicht lustig war, konnten wir herzhaft darüber lachen. Das hat enorm gut getan.

Heute arbeitest du mit einem 80%-Pensum beim gleichen Arbeitgeber wie vor dem Unfall. Wie war dein Wiedereinstieg ins Berufsleben möglich?

Ich habe weiter Fortschritte gemacht und konnte nach einigen Wochen bereits ganze Wochenenden Zuhause verbringen. Es war sehr heilsam, wieder etwas Privatsphäre zu haben und im eigenen Bett schlafen zu können. Als ich mich einige Wochen später wieder anziehen und gehen konnte, dachte ich bereits an meinen Wiedereinstieg.

Ein Berater vom Paraplegiker-Zentrum begleitete mich zu meinem Arbeitgeber. Dieser war verblüfft, wie schnell ich mich nach nur zwei Monaten zurück ins Leben kämpfte. Nach dem Aufenthalt in Nottwil blieb ich noch einen Monat Zuhause, um mich zurechtzufinden. Anschliessend gab mir mein Arbeitgeber die Chance und ich stieg mit einem 30%-Pensum wieder ein. Bei meiner Rückkehr haben sich die Leute da total gefreut und das hat so gut getan!

Die Firma hat mich gestützt, ich bekam nie einen Druck zu spüren. Für die SUVA und IV gelte ich als Vorzeigefall, meine Geschichte wurde auch in einer Zeitschrift abgedruckt. Ich habe daran geglaubt, dass ich es schaffen kann und vor allem wollte ich wieder zurück ins Arbeitsleben. Nun stehe ich heute hier.

Dass du heute hier «stehst», finde ich ein total schönes Bild. Gibt es noch Dinge, denen du besondere Aufmerksamkeit schenken musst?

Ja, es bleiben Sachen, die ich handeln muss, obwohl ich nicht mehr im Stuhl sitze. Vor allem muss ich mit der Kälte aufpassen. Wenn es zu kalt ist, beginne ich zu verkrampfen. Im Winter kann es vorkommen, dass ich dermassen zittere und deshalb mein Auto nicht öffnen, bzw. den Schlüssel nicht drehen kann. Oder beim schwimmen im kalten See könnte es gefährlich werden.

Ich habe chronische Schmerzen und gelernt, die Schmerzattacken auch ohne Infiltrationen in den Hals überstehen zu können. Es geht mir dann schlecht, aber es kommt wieder. Lieber ertrage ich die Schmerzen, als im Rollstuhl zu sein. Mittlerweile reagiere ich sehr gut auf Massagen und habe eine gute Masseurin. Das Feingefühl in den Händen fehlt mir manchmal, dann rutscht mir mal ein Glas aus den Händen oder ich kann einen Tennisball nicht mehr so geschmeidig aus der Luft fischen.
Nach einer Lähmung hat man oft auch eine schlechtere Blase. Das sind Kleinigkeiten. Die guten Tage geniesse ich dafür umso mehr – ich habe ein zweites Leben geschenkt bekommen!

Was möchtest du anderen Menschen für ihren Weg mitgeben?

Unterschätze dich selbst nicht! Du hast mehr Energie und Kraft, als du denkst! Lass dich nicht runterziehen und setze auch mal deinen Trotzkopf durch. In gewissen Situationen tut es dir vermutlich besser, wenn du das Negative wegschiebst. Das ist nicht immer einfach und es funktioniert nicht bei allen. Bei mir hat es funktioniert.
Mein Unfall hat mich gelehrt, wie schnell dein Leben von heute auf morgen anders sein kann. Deshalb schätze es, wenn du froh und glücklich bist und ein gutes Umfeld hast. In schweren Zeiten kann dir das viel Kraft geben.


Herzlichen Dank für das äusserst berührende Gespräch und deine offenen Worte, Peter! Du zeigst uns auf eine sehr bewundernswerte Weise, wie sehr es sich lohnt, weiterzumachen!
Mitten im Leben ein zweites Leben aufbauen – oh ja und wie das geht!

In diesem Sinne
Bleiben wir gemeinsam dran – es lohnt sich!

Noémie