Interview

„Trotzdem weiterzumachen war der Punkt, der mich stark gemacht hat.“

Sie strickt, läuft und kann keinen Bücherladen betreten, ohne mindestens ein Buch zu kaufen. Rosamunde-Pilcher Filme bringen sie zum Schmelzen, selbst in den Wintermonaten. Als lebensfroher Mensch hat sie es gerne lustig und verschickt haufenweise sympathische Emojis über Whatsapp.
Doch was treibt die 52-jährige Norina auf einen Blog, in dem es um Depressionen und emotionale Instabilität geht?

Sie ist Angehörige.
Und: Sie hat unglaublich viel zu berichten!
Beste Voraussetzungen für ein Interview.

Das Besondere an Norina?
Es handelt sich bei ihr um meine Mutter.

Na dann, Bühne frei und lassen wir Mutti aus ihrer Sicht als Angehörige erzählen.

Viel Vergnügen!

Das Familienleben wurde durch den Ausbruch der Krankheit deines Kindes abrupt auf den Kopf gestellt. Wie ging es dir damit?

Ich fühlte mich total alleine und absolut hilflos. Ich wurde zur Fachstelle eingeladen und man klärte mich dort über die Situation auf. Beinahe im gleichen Atemzug sagten mir die Fachpersonen, ich solle mir etwas Gutes tun, zum Beispiel ins Kino gehen. Aber was wollte ich denn jetzt im Kino? Warum sagten sie das jetzt?
Das war völlig absurd für mich, diese Aussage ging in diesem Moment gar nicht. Eine schlimme Situation oder eine Diagnose des eigenen Kindes an den Kopf geworfen zu bekommen, das musste ich zuerst verdauen. Ich fühlte mich überfordert.

Was hättest du dir in diesem Moment von den Fachpersonen gewünscht?

Das Verrückte ist, dass ich es gar nicht wusste. Es war so eine Leere in mir drin, ich konnte nicht mehr nach links oder rechts blicken. Was ich in diesem Moment brauchte, das habe ich mich nie gefragt. In diesem Augenblick war ich wie gelähmt, in einem Schockzustand. Danach habe ich funktioniert, habe den Haushalt gemacht, bin zur Arbeit gegangen.

Wurdest du in dieser Situation professionell begleitet?

Nicht direkt. Sie erkundigten sich nach meinem Befinden und es gab weitere Gespräche, grundsätzlich standen jedoch die Informationen über das weitere Vorgehen meiner Tochter im Vordergrund. Ich kam gar nicht auf den Gedanken, mir Hilfe zu suchen. Meine Tochter brauchte ja die Hilfe und nicht ich. Ich war in einem Zustand, in dem ich das alles nicht begriffen habe.

Rückblickend würde ich jedem Angehörigen empfehlen, nachzufragen oder sich zu erkundigen, was es für Unterstützungsmöglichkeiten gibt, um wieder Kraft und Energie zu tanken. Für meine Tochter, aber auch für mich selbst. Das ist enorm wichtig!

Was genau hat dir geholfen in dieser Zeit?

Es war sehr wichtig für mich, meine Gefühle ausleben und mit anderen Familienangehörigen darüber reden zu können. Wenn jeder mit seiner Trauer oder Wut alleine bleibt, kommt das nicht gut. Gemeinsam durch die Zeit zu gehen und das Schwere zu tragen, macht es ein wenig leichter.

Die Natur hat viel aufgefangen, ich konnte im Wald weinen. Ausserdem hat das Arbeiten für Ablenkung gesorgt, Zuhause hätte ich vermutlich Krise geschoben und wäre durchgedreht. Dazu habe ich angefangen, Sachbücher über Psychologie zu lesen, ich eignete mir Wissen über die psychische Gesundheit an. Zusätzlich war die Musik enorm wichtig für mich.

Inwiefern hat dich die Krankheit deiner Tochter verändert?

Trotz allem hat mich diese Erfahrung in meiner persönlichen Entwicklung weitergebracht. Ich habe mich mit Dingen auseinandergesetzt, die wirklich in die Tiefe gehen. Heute spüre ich eine intensivere Freude über die kleinen Dinge im Leben. Sei es ein Sonnenstrahl, das Vogelgezwitscher, eine Blume am Wegesrand oder einen mit Liebe zubereiteten Cappuccino im Café.

Das Leben meint es gut mit mir, auch wenn ich es in schwierigen Passagen nicht verstehen konnte. Zwischendurch dachte ich, es geht nicht mehr. Trotzdem weiterzumachen und die Hoffnung nicht zu verlieren war genau der Punkt, der mich stark gemacht hat.
Ich hatte zum Beispiel Angst, meine Tochter zu verlieren und konnte nicht verstehen, weshalb plötzlich eine so grosse Distanz zwischen uns war. Ich habe einfach gehofft, dass es wieder gut kommt. Die Hoffnung war immer da und hat mir Kraft gegeben, selbst als ich nicht wusste, wie es weitergeht.

Durch meine Erfahrungen bin ich sensibler geworden und kann mehr auf andere Menschen eingehen. Heute weiss ich, was Angehörige durchmachen und dass der Mensch viel mehr ertragen kann, als er sich selbst zutraut.

Hast du Visionen im Bereich der Angehörigen?

In meiner Region möchte ich in den nächsten zwei bis drei Jahren eine Selbsthilfegruppe für Angehörige gründen. Eine Gruppe, die gemeinsam unterwegs ist – wortwörtlich. Der Austausch der Gruppe soll auf gemütlichen Wanderungen stattfinden. Für mich macht es einen grossen Unterschied, ob ich im Raum auf einem Stuhl sitze oder in leichter Bewegung an der frischen Luft über meine Themen spreche.

Oder es gibt ein Strickworkshop für Angehörige. Also der Part mit dem Stricken wäre ein Scherz, doch das mit der wandernden Selbsthilfegruppe mein Traum. Dieses Projekt liegt mir besonders am Herzen, weil ich den Austausch damals nicht gehabt habe und ich diese Unterstützungsform anderen ermöglichen möchte. Das Gefühl, nicht alleine dazustehen und Hoffnung zu schenken, finde ich sehr wichtig.

Was möchtest du Angehörigen auf ihrem Weg mitgeben?

Meine wichtigste Aussage: Liebe Angehörige, holt euch Hilfe! Alleine durch diese herausfordernde Zeit zu gehen, kann überfordern. Fragt auch gerne nach, was es für Möglichkeiten oder Angebote in eurer Region gibt. Mitgeben möchte ich auch, dass ihr euch etwas Gutes tut – geht ins Kino, raus in die Natur, ins Theater, geht Rodeln und Plantschen, schnappt euch das Mountainbike.
Versucht euch aufzuraffen und es trotzdem zu machen, vor allem, wenn es euch nicht gut geht. Selbst wenn ich den Rat «Tun Sie sich etwas Gutes» damals nicht begriffen habe. Heute verstehe ich.
Deshalb nochmals: Ihr dürft euch Unterstützung holen!


Du kannst Norina auf Instagram folgen, wenn du magst.
Im folgenden Artikel lernst du Norina kennen – autenthisch und witzig: Höchste Zeit, du selbst zu sein!
Wie berührend sie mich durch eine Krise begleitete, darfst du in meinem Buch nachlesen.  

In diesem Sinne
Bleib dran – es lohnt sich!

Noémie

Achja, Updates zu den ersten Wanderungen oder einem Strickworkshop bekommst du selbstverständlich frühzeitig auf dem Blog.