psychische Gesundheit
…und wenn ich rückfällig werde?
November 17, 2017 - psychische Gesundheit
Ich atme nochmals tief durch.
Es ist soweit.
Nach fünf Jahren Selbstverletzung beende ich dieses Kapitel in meinem Leben. Ich vergrabe meine Klingen symbolisch unter einem Stein in der Natur.
Ironischerweise ein einschneidendes Erlebnis.
Es ist paradox.
Vor allem die erste Zeit nach dieser Geste.
Ein «was-wäre-wenn-Szenario» ist ständig präsent. Ich denke so oft an einen möglichen Rückfall, dass ich mich geradezu darauf pole und es mit diesem Verhalten in mein Leben ziehe.
Was wäre, wenn ich rückfällig werde? Wie soll ich mich dann verhalten?
Als Gegensteuer zähle ich immer wieder Gründe auf, weshalb mein Alltag ohne Klinge leichter ist. Schliesslich habe ich praxiserprobte und für erfolgreich bewertete Strategien am Start, falls mich das Leben droht zu überfordern.
Doch es sind nicht nur die Selbstverletzungen, die mich in der Thematik des Rückfalls beschäftigen. Es sind auch die schweren Gedanken, die mich innerlich zerreissen.
Was mache ich, wenn ich wieder in eine depressive Episode stürze?
Wenn ich nicht mehr aus dem Bett komme?
Keinen Sinn mehr sehe?
«Entweder Oder». «Schwarz oder weiss».
Immer diese hinderlichen Denkmuster. Auf der emotionalen Achterbahn.
Ich mag Achterbahnen nicht.
Auch nicht, wenn ich dafür Eintritt zahlen soll.
Die schweren Gedanken brauchen enorm viel Energie. Die verbrannten Kalorien beim Denken zeigen sich durch eine unangenehme Müdigkeit. Leider lassen sie meine Körperfülle nicht reduzieren.
Doch warum will ich unbedingt eine Lösung auf mein (noch nicht vorhandenes) Problem finden?
Ich meine, es könnte sein, dass ich die nächsten dreissig Jahre lang rumgrüble, was ich bei einem Rückfall machen soll. Und dann kommt es nie zu dieser Situation. Wär doch blöd.
Ich wäre vermutlich sogar enttäuscht, weil ich mich so lange «für nichts» vorbereitet habe.
Dreissig Jahre.
Verschwendete Zeit.
Lebenszeit.
Meine Lebenszeit…
Der Gedanke alarmiert mich!
Aber wie kann ich die Alarmanlage ausschalten?
Jetzt ist es höchste Zeit, mein Denkmuster zu überprüfen.
Vielleicht ist es der harte Weg, einen Mittelweg einzuschlagen und nicht zwischen den Extremen zu schwanken. Dieses «grau», eine Mischung aus schwarz und weiss, ist bloss ein ungewohntes Gefühl. Ungewohnt ist neu. Und ich fühle mich unsicher, wenn etwas Neues in mein Leben will.
Soweit, so gut.
Also versuche ich die Perspektive zu wechseln und mir vor Augen zu führen, wie oft ich mich schon erfolgreich auf die Beine gestellt habe.
Immer wieder.
Sieben Jahre liegen zwischen dem Vergraben der Klinge und heute – ich habe mich nicht mehr selbst verletzt.
Doch durch krisengeschüttelte Zeiten gehe ich noch heute. Sie gehören zum Leben dazu und ich bin (im Nachhinein) dankbar dafür. Eine anstrengende Zeit lässt mich reifen. Es macht keinen Sinn, eine anbahnende Krise um alles in der Welt verhindern zu wollen.
Sie kommt.
Mit Sicherheit sogar.
Ich überprüfe meine Ansprüche an mich selbst, um möglichst viel Druck aus meinem Alltag zu nehmen.
Tschüss Anspruch, ständig gut gelaunt zu sein.
Tschüss Anspruch, bunt gekleidet durch die Strassen zu hüpfen.
Hallo Realität, in der ein Tal bloss der Reisebeginn zum Gipfel ist.
Hallo mein Leben, das mit allen Sinnen erlebt werden möchte. Ohne mich selbst zu verletzen.
Ich bin ich.
Mit all meinen emotional instabilen Persönlichkeitszügen. Ja, das ist manchmal scheisse. Und gleichzeitig mein grösstes Glück.
Vor allem habe ich etwas wichtiges gelernt – in den ersten Wochen ohne Klinge, dafür mit fordernden Fragen im Kopf:
Noémie, löse deine Probleme erst, wenn sie da sind.
Nicht vorher.
In diesem Sinne
Bleib dran – es lohnt sich!
Noémie