Interview

«Wenn mir etwas wichtig ist, gibt es immer einen Weg!»

Es ist soweit!
Heute darf ich dir einen Gast auf dem Blog-Sofa vorstellen! Also nicht einfach irgendeinen Gast. Wir reden hier von Marcel!

Marcel ist 34-jährig und wohnt in der Nähe von St.Gallen. Er spielt Unihockey, freut sich auf die Grillsaison – und betreibt Aufklärungsarbeit zum Thema Morbus Crohn.

Marcel ist selbst betroffen und bewältigt trotz einem schweren Verlauf mit einem charismatischen Lächeln seinen Alltag. Auf berührende Weise nimmt er uns mit auf seine Reise und gewährt uns einen tiefen Einblick in das Leben mit einer chronischen Krankheit. Er macht nicht nur Betroffenen Mut, er bereichert auch Nichtbetroffene.

Seine Zusage zum Interview freut mich bis tief in die Hautschichten. Lass auch du dich berühren und ermutigen von seiner Lebenseinstellung!



Lieber Marcel, zuerst die Frage: Wie würdest du Morbus Crohn beschreiben?

Morbus Crohn ist eine chronische Darmentzündung. Diese entsteht, weil das Immunsystem denkt, der Darm sei das Problem und greift ihn an. Dagegen muss man Medikamente nehmen, die das Immunsystem herunterfahren, damit der Körper nicht mehr gegen den Darm kämpft und ihn gleichzeitig beruhigt. Es gibt unterschiedliche Verläufe – manche spüren nicht allzu viel, andere haben täglich mit der Krankheit zu kämpfen.

Wie hast du von deiner Krankheit erfahren?

Das war mit 7 Jahren. Ich hatte Bauchweh, Durchfall und Blut im Stuhl. Meine Mutter ging mit mir zum Hausarzt, dieser schickte mich mit der Vermutung auf eine Blinddarmentzündung direkt ins Spital. Dort musste ich dann bleiben.

Das war mein erster Spitalaufenthalt. Ich kann mich noch gut an eine Situation erinnern. Nach den Untersuchungen wurde ich in ein Achterzimmer verlegt und bekam das Bett am Fenster. Ich war alleine im viel zu grossen Zimmer. Abends schaute ich aus dem Fenster und betrachtete die Lichter der Stadt. «Irgendwo da draussen ist meine Mutter und mein Zuhause», dachte ich dabei. Es war das erste Mal, dass ich von Zuhause weg war. In diesem Moment wurde ich aus meinem Kinderleben gerissen.

Wie ging es dann weiter?

Es stellte sich heraus, dass es nicht der Blinddarm war und ich wurde entlassen. Die Beschwerden hatte ich aber weiterhin. Nach etlichen Untersuchungen kam dann raus, dass es Morbus Crohn ist. Es folgte ein schwieriger Verlauf, der viele Operationen und lange Spitalaufenthalte mit sich zog. Ich gehörte also zu denen, die einen schweren Krankheitsverlauf hatten.

Wie hast du dich als Kind im Spitalalltag zurechtfinden können?

Ein Aufenthalt im Spital ist zwar scheisse, aber trotzdem arbeiten dort auch coole Leute. Einmal wurde ich zum Beispiel im Kinderspital auf die Krebsstation verlegt, weil sonst alles belegt war. Die hatten da so Dreiräder, ganz tolle Spielsachen und sogar eine Spielkonsole. Es war toll, die Leute hatten Zeit für mich und es kam öfters vor, dass ein Arzt über Mittag mit mir eine Runde «Mario Kart» gespielt hat. Das hat mir natürlich sehr gefallen. Also sagte ich beim nächsten Mal, dass ich wieder auf diese Station wollte. Und meist durfte ich auch da hin.

Mein Leben hatte ich mehrheitlich im Spital und nicht in der Schule wie die anderen. Ich lernte, mich immer wieder an neue Situationen anzupassen. Manchmal war ich für ein dreiviertel Jahr durchgehend im Spital und hatte beinahe Angst, wieder nach Hause zu gehen. Wie es da wohl werden würde? Auch das Pflegepersonal und die Ärzte wechselten manchmal. Ja, das war mein Leben. Und es war okay so.

Du warst ja trotz allem schulpflichtig. Wie hast du die Schulzeit erlebt?

Die Schule war schwierig. Durch meine Abwesenheiten wurde ich in der Klasse zwangsläufig zum Aussenseiter und wegen meinen Darmproblemen gemobbt. Manchmal bekam ich eine «Gute-Besserung-Karte» von der Lehrerin zugeschickt mit den Unterschriften meiner Mitschüler, das wars aber schon.

Ein geregelter Schulalltag kannte ich nicht. Auch im Schulstoff hing ich hinterher, doch ich arbeitete den Lehrstoff nach, wo ich nur konnte – und mit Erfolg! Ich musste keine Klasse wiederholen, auch wenn ich monatelang nicht am Unterricht teilnehmen konnte.

Heute gehst du mit deiner Krankheit offen um und betreibst Aufklärungsarbeit. Wie ist es dazu gekommen?

Im Fernsehen habe ich jemanden gesehen, der extrem über Schnupfen geklagt hat. Irgendwie ärgerte mich dieses Verhalten, weil ich der Meinung war, dass es mehr gibt als Schnupfen. Ich wollte überhaupt kein Mitleid, sondern zeigen, dass man auch mit einer chronischen Krankheit gut leben kann.

Vor einem Jahr habe ich mit Instagram angefangen, als totaler Frischling. Ich wurde mit positivem Feedback nur so überrascht und damit hätte ich nie gerechnet! Die Menschen haben sich interessiert, was ich mache und ich gebe gerne Auskunft über meine Erfahrungen. Auf meinem Profil darf man auch Sorgen und Probleme teilen, hauptsächlich fokussiere ich mich jedoch auf die schönen Dinge. Es ist mir wichtig zu sagen, dass man trotz allem auch Freude am Leben haben kann.

Wie bist du zu deiner positiven Einstellung gekommen?

Meine positive Einstellung hatte ich vermutlich schon immer. Ob es Ablenkung oder ein Schutzfaktor war und ist, kann ich nicht genau sagen. Ich heitere gerne Menschen auf und will ausstrahlen, dass es mir gut geht. Weshalb sollte mein Leben weniger lebenswert sein als jemand, der gesund ist? Ich finde das Leben schön und möchte andere damit anstecken. Ich umgebe mich gerne mit Menschen, die eine ähnliche Einstellung haben. Die Freude am Leben will ich ausstrahlen – auch wenn mich Dinge manchmal nerven.

Aus reiner Neugier.. was nervt dich?

Wenn mich etwas total nervt, dann ist es die Frage: «Was machst du beruflich?»
Das reduziert eine Person meiner Meinung nach zu sehr auf seinen Beruf. Ich bin nicht der Marcel, der Pilot oder Banker sein muss. Ich bin der Marcel, der auch ohne Job ganz nett sein kann.

Auf die Frage antworte ich, IV-Rentner zu sein und gleichzeitig muss ich mich rechtfertigen. Die meisten sagen, dass sie auch schon mal Durchfall gehabt haben. Dann muss ich den Leuten erklären, dass das mit einer Magendarmgrippe nicht mehr viel zu tun hat. Es ist ja nicht nur Morbus Crohn, da hängt noch ganz viel mit dran. Ähnlich wie eine Depression auch körperliche Symptome machen kann.

Es gab eine Zeit in meinem Leben, da war ich total down. Vor vier Jahren fiel ich in ein so tiefes Loch, dass ich mein Leben beenden wollte. Diese Gedanken erzählte ich einer Vertrauensperson und bekam professionelle Unterstützung. Dadurch fand ich einen Weg aus dem Loch und ich bin sehr froh darüber. Was ich damit sagen möchte: Man unterschätzt, was eine Krankheit alles auslösen kann. Eine chronische Krankheit ist ein 100% Job!

Heute habe ich ein gutes Netzwerk, das im Hintergrund auf «Stand By» läuft. Das gibt mir Kraft. In meinem Alltag fühle ich mich nicht eingeschränkt, weil ich alles machen kann, was ich möchte. Wenn mir etwas wichtig ist, gibt es immer einen Weg.

Abschliessend die Frage: Was möchtest du uns als Gesellschaft mitgeben?

Jede Person hat so seine Macken. Bei uns ist es die Krankheit, die das «rauf und runter» macht, bei jemand anderem ist es vielleicht das Gewicht oder etwas ganz anderes. Ich würde mir mehr Akzeptanz für die Erkrankungen wünschen, die man nicht sieht.

Ich möchte Menschen dazu ermutigen, sich Hilfe zu holen, wenn man sie braucht. Die Hilfe ist dafür da und die Leute machen das gerne. Habt keine Scham, einen Arzt oder Psychiater zu kontaktieren! Gerne möchte ich auch dazu ermutigen, den Blick auf die Dinge zu lenken, die gut laufen. Wir haben eine gute Versorgung und ein schönes Land. Habt Freude an den kleinen Sachen, wenn wir zum Beispiel schmerzfrei den Bienchen beim rumfliegen zuschauen können. Glücklichsein kann sehr schmerzhemmend sein.


Ein herzliches Dankeschön für deinen berührenden Einblick und deine offenen Worte, lieber Marcel!

Möchtest du Kontakt zu Marcel aufnehmen? Ihm auf seinen Kanälen folgen?
Oder beides?

Am einfachsten findest du ihn:
Auf Instagram: @my_little_morbus_crohn
oder seiner Facebook-Seite: @my_little_morbus_crohn

Ausserdem war er zu Besuch beim Schweizer Fernsehen TVO, über seine Zeit in der Isolation.

In diesem Sinne
Bleiben wir gemeinsam dran – es lohnt sich! 

Noémie