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Weshalb ist die Normalität so dermassen uncool geworden?

«Ich wäre gerne eine normale Person», die Überschrift einer Schweizer Zeitung fesselt mich. Die Aussage stammt von Roger Federer. Was der Tennisstar auf die Frage antwortet, wer er gerne sein würde?

«Ich würde wohl eine normale Person wählen. Die Arbeit müsste nichts Wunderbares, nichts das dich enorm inspiriert, sein, sondern etwas ganz normales. Das ist es, was ich am meisten für meine Familie suche. Wenn wir auf dem Tennis-Circuit auf Tour sind, leben wir in einer Art gesegnetem Wahnsinn, der nicht der Realität entspricht und wir dürfen es auch nicht als das betrachten.
Ich bemühe mich bewusst für meine Frau und meine Kinder, aber es wäre gut, einfach arbeiten zu gehen und danach zu deiner Familie zurückzukehren. Oder wenn du keine hast, einfach etwas trinken zu gehen. Wie wäre es, das tun zu können? Es wäre etwas, das ich gerne versuchen würde.»


Hm.
Normal sein.

Ist das nicht das Gegenteil von diesem «Gross träumen und gegen den Strom schwimmen-Ding»? Es schwirren so viele Anleitungen umher, wie die sogenannte Komfortzone verlassen werden könnte. Manchmal geht mir das auf den Leim.
Naja, ich gehe mir auf den Wecker. Und dazu will ich mich auch noch aufregen… spezielle Kombi!

In solchen Momenten will ich nichts von Persönlichkeitsentwicklung wissen und hinterlasse meine braunen Häufchen präzise auf der sogenannten «besten Version» von mir. Dann esse ich keine fünf Portionen Gemüse und Früchte am Tag, wasche drei Tage meine Haare nicht und betätige die Sitzheizung auch an warmen Frühlingstagen.

Leben am Limit. 
Ich weiss.

Und was passiert?
Nichts.

Weiterhin pendle ich in meinem Leben zwischen Langeweile und Stress, zwischen gesund und krank hin und her. Mal in meiner sogenannten Komfortecke, mal ausserhalb. Aber mal ehrlich: Was ist mit dieser Komfortzone denn nicht in Ordnung?

Es geht nicht darum, schneller oder besser zu sein.
Es geht vielmehr um die Frage: Fühle ich mich wohl mit mir selbst?

Auch wenn dein Ich gerade etwas verwickelt vor dir auf dem Boden liegt:
Du hast nichts falsch gemacht. Du hast keinen Zug verpasst. 

Ein gut gemeintes «du kannst alles erreichen» kann einerseits sehr motivieren, andererseits richtig fies reinhauen. In einer Depression frustriert mich der Held, der gerade den Mount Everest besteigt, das Bild der Frau, die meditierend auf einem Felsvorsprung sitzt oder der Typ mit Siegerpose auf der Bühne.

Solche Erfolgsgeschichten von Berühmtheiten sind ja schon gut, aber die sind irgendwie anders. In diesem Moment weit weg von einer Normalität, nach der ich mich sehne. 
In diesen Geschichten höre ich kein «du kannst es, ich glaube an dich». Sondern:
So wie ich jetzt bin, bin ich nicht genug.
Ich muss Leistung erbringen, um zu genügen.
Ich bin nicht in Ordnung.

Ja, es gibt diese berührenden Erfolge. Erfolgsgeschichten zu hören ist wundervoll, keine Frage – doch nicht jede Lebensgeschichte muss zur Autobiografie im Bestseller-Regal werden. Du musst auch keine Kunststücke in deinem Leben ausprobieren.
Und dir vor allem nicht noch mehr Druck machen.

Mut zur geplatzten Träume!

Das Leben wird uns hin und wieder enttäuschen. Das zeigt doch nur, dass wir uns darauf eingelassen haben. Oder möchten wir lieber verletzungsfrei «durchkommen»?
Ja, manchmal platzen Träume wie Seifenblasen. 
Und an anderen Tagen nicht. Weil wir gerade neue erschaffen.  

Das ist doch ein Stück Normalität – mit oder ohne psychische Erkrankung. Weshalb ist die Normalität so dermassen uncool geworden?

Komfortzone und Normalität haben durchaus Berechtigung, in unserem Alltag aufzukreuzen. Dort verbringen wir doch die meiste Zeit in unserem Leben. Oder möchten wir lieber mehr Zeit am Tag für eine Aktivität investieren, die uns mehr nimmt, als gibt? 
Wenn wir über längere Zeit unsere wahren Bedürfnisse unterdrücken, drücken sie aufs Gemüt. Je länger sie drücken, desto wahrscheinlicher, dass sie uns krank macht.

Normalität scheint (noch) nicht im Trend zu sein.

Wenn ich auf den Asphalt knalle (na sinnbildlich gemeint) und ich kaum wieder aufstehen kann, dann erwischt sie mich. Die Sehnsucht nach Normalität.
Und ein bisschen Komfortbereich. In diesem Bereich muss ich nichts erklären und kann auf Energiesparflamme vor mich hin köcheln. 

Nichts spektakuläres. 
Orangenmarmelade machen. Malen. Abfallsäcke an die Strasse stellen. Alltagskram erledigen.
Die kleinen Alltagspflichten helfen mir, wieder auf die Beine zu kommen. 

Ist das nicht erleichternd?
Nichts mit uncool – sogar Herr Federer würde einmal gerne «gesegneten Wahnsinn» mit «Normal» tauschen wollen.

In diesem Sinne
Bleiben wir gemeinsam dran – es lohnt sich!

Noémie